Zur Auslegung (vermeintlich) unklarer Vergabe- und Vertragsunterlagen

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Zur Auslegung (vermeintlich) unklarer Vergabe- und Vertragsunterlagen
Urteil des Oberlandesgerichts Celle – 14 U 171/18 vom 2. Oktober 2019

1. Beruht der Vertragsabschluss auf einem Vergabeverfahren der VOB/A, ist die Ausschreibung mit dem Inhalt der Auslegung zugrunde zu legen, wie ihn der Empfängerkreis verstehen muss. Grundlage der Auslegung ist der objektive Empfängerhorizont dieser potenziellen Bieter.

2. Neben dem Wortlaut der Ausschreibung sind die Umstände des Einzelfalles, u. a. die konkreten Verhältnisse des Bauwerks, zu berücksichtigen, zudem Verkehrssitte sowie Treu und Glauben.

3. Ob die ausschreibende Stelle ein bestimmtes Problem möglicherweise nicht gesehen hat, kann die Auslegung des Vertrages nicht beeinflussen; maßgeblich ist die objektive Sicht der potenziellen Bieter und nicht das subjektive Verständnis des Auftraggebers von seiner Ausschreibung.

4. Ein Bauvertrag ist zudem als sinnvolles Ganzes auszulegen. Es ist davon auszugehen, dass der Anbieter eine Leistung widerspruchsfrei anbieten will.

5. Bei Unklarheiten über nicht von vornherein in Übereinstimmung zu bringende Vertragserklärungen hat sich die Auslegung zunächst an demjenigen Teil zu orientieren, der die Leistung konkret beschreibt. Dabei kommt dem Wortlaut der Leistungsbeschreibung gegenüber etwaigen Plänen jedenfalls dann eine vergleichsweise große Bedeutung zu, wenn damit die Leistung im Einzelnen genau beschrieben wird, während die Pläne sich nicht im Detail an dem angebotenen Bauvorhaben orientieren.

6. Lediglich im Fall, dass die Vergabe- und Vertragsunterlagen offensichtlich falsch sind, folgt aus dem Grundsatz des Gebots zu korrektem Verhalten bei Vertragsverhandlungen eine Prüfungs- und Hinweispflicht des Auftragnehmers.

7. Unterlässt der Auftragnehmer in einem solchen Fall den gebotenen Hinweis, ist er nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert, Zusatzforderungen zu stellen.

(Amtliche Leitsätze)

In dem Verfahren vor dem OLG Celle ging es um eine Nachtragsforderung im Zusammenhang mit der Auslegung von Leistungsbeschreibungen.

Sachverhalt:
Die beklagte Auftraggeberin schrieb das streitgegenständliche Bauvorhaben, bestehend aus den Teilen „Straßenbau“ und „Straßenentwässerung“, im Paket aus und beauftragte das klagende Unternehmen. Ausführungsbeginn und Fertigstellungstermin waren für beide Teile identisch.

Im Leistungsverzeichnis hieß es zum Straßenbau unter „Ausführung der Bauleistung“: „Herstellen Fahrbahn unter Vollsperrung (analog Regelplan B I/17 RSA 95)“. Zur Stadtentwässerung enthielt das Leistungsverzeichnis u. a. die Aussage: „Die Stadtbahn (…) wird an 3 Stellen durch die geplanten Rohrverlegearbeiten in offener Bauweise gekreuzt. Der Stadtbahnverkehr bleibt in Betrieb.“

Die Klägerin zeigte während der Auftragsausführung eine Behinderung der Arbeiten an und meldete Mehrkosten an. Hintergrund hierfür war der Umstand, dass der Stadtbahnbetrieb – zwischen den beiden Richtungsfahrbahnen verlaufen die Gleise der Stadtbahnlinien – im Bauausführungszeitraum aufrechterhalten wurde. Im Hinblick darauf machte die Klägerin unter Verweis auf das Leistungsverzeichnis eine fehlende Vollsperrung geltend, was die Beklagte mit Verweis auf die Ausschreibungsunterlagen (Einzeichnung der Stadtbahnlinie in den Plänen) und das Leistungsverzeichnis zur Stadtentwässerung zurückwies.

Mit Nachträgen machte die Klägerin gegenüber der Beklagten in der Folge Mehrkosten im Hinblick auf eine fehlende Vollsperrung geltend, die die Beklagte zurückwies. Ihr Begehren verfolgte die Klägerin gerichtlich weiter.

Das Landgericht entschied, dass der Klägerin kein Ersatz der Mehrkosten zustehe, weil sie gegen die ihr obliegende Kooperationspflicht verstoßen habe. Denn sie habe nicht hinterfragt, weshalb im Leistungsverzeichnis für die Entwässerungsarbeiten keine Vollsperrung, im Leistungsverzeichnis für die Straßenbauarbeiten hingegen eine Vollsperrung vorgesehen gewesen sei. Auf diesen Widerspruch hätte die Klägerin hinweisen müssen. Beide Leistungsverzeichnisse seien in der Gesamtschau zu sehen. Die Klägerin habe darüber hinaus auch insofern gegen das Kooperationsgebot verstoßen, als sie die Beklagte nicht über die zu erwartende Höhe der Mehrkosten, die eine faktische Verdoppelung der Kosten bedeuteten, aufgeklärt habe.

Gegen dieses Urteil wendete sich die Klägerin mit ihrer Berufung. 

Das OLG Celle entschied, dass die Berufung in der Sache erfolglos bleibt. Das Landgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen.

Aus den Gründen:
Der geltend gemachte Anspruch bestehe bereits dem Grunde nach nicht.

Allerdings vermag das OLG Celle keinen Verstoß der Klägerin gegen die ihr obliegende Kooperationspflicht zu erkennen. Das Landgericht habe zu Unrecht angenommen, dass das Leistungsverzeichnis der Straßenarbeiten unklar und widersprüchlich sei.

Der von der Klägerin geltend gemachte Mehrvergütungsanspruch scheitere daran, dass das Leistungsverzeichnis der Straßenbauarbeiten, soweit für den Rechtsstreit von Belang, eindeutig sei. Jedenfalls sei es bei Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falles weder unklar noch im Hinblick auf das Leistungsverzeichnis für die Entwässerungsarbeiten widersprüchlich.

Ausgangspunkt der Beurteilung sei eine Auslegung der Leistungsbeschreibung gemäß §§ 133, 157 BGB.

Bei einem Vertragsabschluss aufgrund eines Vergabeverfahrens nach der VOB/A sei die Ausschreibung mit dem Inhalt der Auslegung zugrunde zu legen, den der Empfängerkreis verstehen müsse. Grundlage sei der objektive Empfängerhorizont dieser potenziellen Bieter. Neben dem Wortlaut der Ausschreibung seien die Umstände des Einzelfalles, u. a. die konkreten Verhältnisse des Bauwerks, zu berücksichtigen, zudem die Verkehrssitte sowie Treu und Glauben.

Ein Bauvertrag sei zudem als sinnvolles Ganzes auszulegen. Es sei davon auszugehen, dass der Anbieter eine Leistung widerspruchsfrei anbieten wolle. Bei Unklarheiten über nicht von vornherein in Übereinstimmung zu bringende Vertragserklärungen habe sich die Auslegung zunächst an demjenigen Teil zu orientieren, der die Leistung konkret beschreibt. Dabei komme dem Wortlaut der Leistungsbeschreibung gegenüber etwaigen Plänen jedenfalls dann eine vergleichsweise große Bedeutung zu, wenn damit die Leistung im Einzelnen genau beschrieben werde, während die Pläne sich nicht im Detail an dem angebotenen Bauvorhaben orientieren.

Unklarheiten der Ausschreibung gingen grundsätzlich nicht zu Lasten des Auftragnehmers. Dieser sei auch grundsätzlich nicht verpflichtet, die ausschreibende Stelle auf Fehler im Leistungsverzeichnis hinzuweisen. Lediglich in dem Fall, dass die Verdingungsunterlagen offensichtlich falsch seien, folge aus dem Grundsatz des Gebots zu korrektem Verhalten bei Vertragsverhandlungen eine Prüfungs- und Hinweispflicht des Auftragnehmers. 

Nach diesen Maßstäben habe die Klägerin nicht aufgrund des Leistungsverzeichnisses zu den Straßenbauarbeiten annehmen können und dürfen, dass während der Straßenbauarbeiten kein Stadtbahnverkehr in dem von den Arbeiten betroffenen Abschnitt stattfinden würde.

Dass dort eine Stadtbahnlinie verlaufe, sei aus den Plänen der Ausschreibungsunterlagen bekannt gewesen. Zudem sei die Klägerin ortsansässig. Insbesondere aber sei ihr das Vorhandensein und die Linienführung der Stadtbahn aus den Ausschreibungsunterlagen zu den Entwässerungsarbeiten bekannt gewesen.

Ohne Erfolg mache die Klägerin weiter geltend, im Hinblick auf den Passus „Herstellen Fahrbahn unter Vollsperrung (analog Regelplan B I/17 RSA 95)“ habe sie davon ausgehen dürfen, dass der gesamte von den Bauarbeiten betroffene Bereich gesperrt werde. Hiergegen spricht nach Ansicht des OLG Celle zunächst, dass bereits nach dem Wortlaut der Regelung lediglich eine Vollsperrung der von den Arbeiten betroffenen Fahrbahn anzunehmen war. Der Gleiskörper gehöre nicht zu den von den Arbeiten betroffenen Bereichen. Auch wenn der Gleiskörper durch Pkw und Lkw mitgenutzt werde, sei er vom im Leistungsverzeichnis verwendeten Begriff der Fahrbahn, die erneuert werden sollte („Herstellen Fahrbahn“), erkennbar nicht umfasst. Daneben sei der Klammerzusatz zu berücksichtigen: Der darin genannte Regelplan sei dem Leistungsverzeichnis beigefügt. Ihm sei ohne Weiteres selbst für einen Laien zu entnehmen, dass eine Sperrung lediglich des bearbeiteten Teils der Straße erfolgen sollte, und zwar in alle Richtungen und ohne z. B. Fußgängerübergänge oder Behelfsdurchfahrten, mithin vollständig.

Selbst wenn entgegen der vorstehenden Erwägungen nicht angenommen würde, das Leistungsverzeichnis zu den Straßenbauarbeiten sei für einen verständigen Bieter – jedenfalls in Zusammenschau mit dem Leistungsverzeichnis zu den Entwässerungsarbeiten – eindeutig, sind nach Auffassung des OLG Celle die weiteren hier vorliegenden besonderen Umstände zu berücksichtigen: So seien die Maßnahmen „Straßenbau“ und „Entwässerung“ im Paket ausgeschrieben worden, sie beträfen denselben Bereich und hätten zur selben Zeit ausgeführt werden müssen. Weiter sei der Klägerin aufgrund der eindeutigen Angabe im Leistungsverzeichnis zur Entwässerung positiv bekannt, dass der Stadtbahnverkehr während der Ausführungszeit in Betrieb bleibe. Weshalb die Klägerin angesichts dessen habe annehmen können oder angenommen haben wolle, gleichwohl werde der Stadtbahnverkehr für die Straßenbauarbeiten eingestellt, erschließe sich nicht. Die Klägerin müsse bewusst die Augen vor dem Umstand verschlossen haben, dass der Stadtbahnverkehr aufrechterhalten werde. Bei der – maßgeblichen objektiven Sicht der Bieter – habe außer Zweifel gestanden, dass der Stadtbahnverkehr in Betrieb bleibe und lediglich der Arbeitsbereich vollständig abgesperrt werden würde.

Im Ergebnis geht das OLG Celle sogar ausdrücklich davon aus, dass sich die Klägerin entweder verkalkuliert oder die betreffenden Einheitspreise bewusst zu niedrig angesetzt habe, um den Zuschlag zu erhalten und gegebenenfalls nachträglich Mehrkosten geltend zu machen. In beiden Fällen ginge dies jedenfalls zu ihren Lasten.

Praktische Auswirkungen:
Das OLG Celle verdeutlicht in der Entscheidung das Vorgehen bei der Auslegung von (vermeintlich) unklaren Ausschreibungsunterlagen und die Folgen. Dabei ist der objektive Empfängerhorizont der potenziellen Bieter maßgeblich. Neben dem Wortlaut der Ausschreibung müssen diese die Umstände des Einzelfalles sowie Verkehrssitte und Treu und Glauben berücksichtigen. Auf das subjektive Verständnis des Auftraggebers von seiner Ausschreibung kommt es hingegen nicht an. Handelt es sich wie vorliegend um einen Bauvertrag, ist dieser als sinnvolles Ganzes auszulegen.

Bei Unklarheiten über nicht von vornherein in Übereinstimmung zu bringende Vertragserklärungen hat sich die Auslegung zunächst an demjenigen Teil zu orientieren, der die Leistung konkret beschreibt. Dabei kommt dem Wortlaut der Leistungsbeschreibung gegenüber etwaigen Plänen jedenfalls dann eine vergleichsweise große Bedeutung zu, wenn damit die Leistung im Einzelnen genau beschrieben wird, während die Pläne sich nicht im Detail an dem angebotenen Bauvorhaben orientieren.

Eine Prüfungs- und Hinweispflicht des Auftragnehmers besteht jedoch nur bei offensichtlich falschen Vergabe- und Vertragsunterlagen. Unterlässt der Auftragnehmer in einem solchen Fall den gebotenen Hinweis, kann er keine Zusatzforderungen stellen.

Deutlich zieht das OLG Celle eine rote Linie, wenn der Eindruck entstehen muss, dass sich der Auftragnehmer verkalkuliert oder Preise bewusst zu niedrig kalkuliert hat, um später Mehrkosten zu fordern.

(Quelle: VOBaktuell Heft II/2020
Ass. jur. Anja Mundt)