Wartefrist des § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB durch Versand eines Informationsschreibens über die genutzte E-Vergabe-Lösung in Gang gesetzt?

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Wartefrist des § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB durch Versand eines Informationsschreibens über die genutzte E-Vergabe-Lösung in Gang gesetzt?
Beschluss der Vergabekammer Sachsen – 1/SVK/043 – 20 vom 28. Juli 2021

Amtliche Leitsätze:
1. Das Versenden des Informationsschreibens aus dem AI Vergabemanager löst die Wartefrist des § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB von 10 Tagen aus.

2. Das Bieterpostfach des „AI-Bietercockpits“ und der Bieterbereich der AI Vergabeplattform gehören zum Machtbereich des Bieters.

3. Die durch den AI Vergabemanager versendeten Nachrichten entsprechen dem Textformerfordernis des § 134 Abs. 2 GWB i. V. m. § 126b BGB. Sie können sowohl im Bieterbereich der Vergabeplattform als auch im Bietercockpit für einen angemessenen Zeitraum unverändert wiedergegeben werden als auch aufbewahrt, ausgedruckt und gespeichert werden. Der Auftraggeber kann sie nicht nachträglich löschen, verändern oder zurückrufen.

4. Bei elektronischer Kommunikation liegt eine Absendung dann vor, wenn ohne weiteres Zutun des öffentlichen Auftraggebers unter normalen Umständen mit der Übermittlung der Information an den Adressaten innerhalb des für das konkret verwendete (elektronische) Kommunikationsmittel üblichen Zeitraums zu rechnen ist. Entscheidend ist dabei, dass die Nachricht den Machtbereich des Absenders verlässt und so elektronisch in Textform „auf den Weg gebracht“ wird, dass bei einem regelgerechten Verlauf die Information in den Machtbereich des Empfängers gelangt, sie insbesondere nicht mehr vom Absender nachträglich einseitig verändert oder gelöscht werden kann.

In dem Verfahren vor der Vergabekammer Sachsen war entscheidend, ob der Versand eines Informationsschreibens über die genutzte E-Vergabe-Lösung die Wartefrist des § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB von 10 Tagen in Gang setzt.

Sachverhalt:
Der Auftraggeber schrieb Montageleistungen im Zusammenhang mit dem Abbruch eines Universitätsgebäudes im offenen Verfahren aus und nutzte die E-Vergabe-Lösung der Firma AI Administration Intelligence AG, bestehend aus den drei Anwendungen „Vergabemanager“, „Vergabeplattform“ und „Bietercockpit“. Die gesamte Bieterkommunikation erfolgt dabei geschlossenen aus dem AI Vergabemanager heraus über die AI Vergabeplattform hinein ins AI Bietercockpit. Der Auftraggeber versendet Nachrichten an die Bieter. Diese werden auf der AI Vergabeplattform in einem geschützten Bereich hinterlegt, die nur vom jeweiligen Bieter nach Eingabe seiner Nutzerdaten eingesehen werden können, und im Bieterpostfach des AI Bietercockpits, auf das nur der jeweilige Nutzer nach erfolgter Anmeldung zugreifen kann. Bestandteil des „Bietercockpits“ ist ein Bieterpostfach, in dem der Bieter Nachrichten erstellen und an die Vergabeplattform bzw. den Auftraggeber versenden und Nachrichten des Auftraggebers, die dieser vom Vergabemanager versendet, empfangen kann, ähnlich der Funktionsweise eines E-Mail-Postfachs beim Versenden und Empfangen von Nachrichten.

Die Antragstellerin gab ein Angebot ab, wurde aber wegen fehlender Eignung ausgeschlossen. Der Auftraggeber versendete das entsprechende Informationsschreiben am 20. November 2020 um 16:40 Uhr aus dem Vergabemanager an das Bieterpostfach des von der Antragstellerin verwendeten Bietercockpits. Nach Eingang der Nachricht im Bieterpostfach erhielt die Antragstellerin um 16:42 Uhr eine automatisch generierte E-Mail an die von ihr im Vergabeverfahren angegebene E-Mail-Adresse, nach der im Bieterpostfach bzw. auf der Vergabeplattform neu eingestellte Informationen zum Vergabeverfahren vorhanden seien. Die Antragstellerin lud das Informationsschreiben am 20. November 2020 um 17:28 Uhr herunter. Am 1. Dezember 2020 um 9:36 Uhr wurde der Zuschlag – wie im Informationsschreiben angekündigt – an eine andere Firma erteilt.

Am 2. Dezember 2020 beantragte die Antragstellerin die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens, weil der vom Auftraggeber geschlossene Vertrag nach den §§ 135 und 134 Abs. 2 GWB unwirksam sei. Das Absenden der Vorinformation an die Vergabeplattform genüge nicht den Anforderungen des § 134 GWB.

Die Vergabekammer erachtet den Nachprüfungsantrag für unzulässig.

Aus den Gründen:
Ein vor Antragstellung erteilter wirksamer Zuschlag könne von der Vergabekammer nicht aufgehoben werden, § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB. Der Zuschlag sei wirksam am 1. Dezember 2021 um 09:36 Uhr erteilt worden, und der erst am 2. Dezember 2021 um 08:35 Uhr gestellte Nachprüfungsantrag sei verspätet und daher unzulässig. Gründe für eine Unwirksamkeit oder Nichtigkeit der Zuschlagserteilung lägen nicht vor. Denn das Versenden des Informationsschreibens aus dem AI Vergabemanager löse die Wartefrist des § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB von 10 Tagen aus.

Gemäß § 134 Abs. 2 GWB dürfe ein Zuschlag erst nach der vorgesehenen Wartefrist erteilt werden. Werde die Information elektronisch versendet, betrage die Frist 10 Kalendertage. Die Frist beginne nur zu laufen, wenn der Bieter nach § 134 GWB in Textform informiert worden sei. Maßgeblich sei nach § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB die Absendung durch den Auftraggeber.

Maßgeblich sei deshalb, ob die vorgeschriebene Textform gewahrt worden sei und ein Absenden i. S. d. § 134 Abs. 2 GWB vorliege. 

Nach Ansicht der Vergabekammer entsprechen die durch den AI Vergabemanager versendeten Nachrichten dem Textformerfordernis des § 134 Abs. 2 GWB i. V. m. § 126b BGB. Die Nachricht erfülle die Anforderungen des § 126b BGB. Es handle sich sowohl bei der Nachricht als auch bei dem ihr als Anlage beigefügten PDF-Dokument um eine lesbare Erklärung, in der jeweils die Person des Erklärenden genannt worden sei. Auch sei diese auf einem dauerhaften Datenträger abgegeben worden, denn die Nachricht habe aufbewahrt, ausgedruckt und gespeichert werden können. Es sei bei dem verwendeten technischen System ausgeschlossen, dass der Auftraggeber einmal versendete Nachrichten nachträglich ändere oder lösche, denn dieser könne weder auf den Bieterbereich der Vergabeplattform noch auf das Bieterpostfach des Bietercockpits zugreifen. Durch Betätigen des „Sende“-Buttons im Vergabemanager würden die Nachrichten unwiderruflich „auf den Weg“ gebracht. Sie könnten somit sowohl im Bieterbereich der Vergabeplattform als auch im Bietercockpit für einen angemessenen Zeitraum unverändert wiedergegeben werden. 

Die Antragstellerin habe das Informationsschreiben über ihr eigenes auf ihrem PC installiertes Software-Tool „AI Bietercockpit“ empfangen. Sie habe die Nachricht in diesem Programm aufbewahren, ansehen, speichern und ausdrucken können und nachweislich auch abgerufen. Diese technische Lösung sei mit dem Empfang einer E-Mail vergleichbar, die dem Textformerfordernis entspreche.

Vorliegend sei an die Antragstellerin unmittelbar nach Versand des Informationsschreibens aus dem Vergabemanager (20. November 2020 um 16:40 Uhr) eine automatisch generierte E-Mail an die bei der Registrierung von ihr angegebene E-Mail-Adresse gesendet worden (20. November 2021 um 16:42 Uhr).

Auch soweit statt des „AI Bietercockpits“ durch den Empfänger der Bieterbereich der hier verwendeten Vergabeplattform verwendet würde, sei die Textform gewahrt.

Zudem sei das Informationsschreiben vom Auftraggeber i. S. d. § 134 Abs. 2 GWB elektronisch abgesendet worden.

Nach § 134 Abs. 2 Satz 1 und 2 GWB dürfe der Vertrag erst 10 Kalendertage nach Absenden der Information geschlossen werden.

Danach sei Fristbeginn der Tag nach der Absendung der Information durch den Auftraggeber. Entscheidend sei, dass die Nachricht den Machtbereich des Absenders verlasse und so elektronisch in Textform „auf den Weg gebracht“ werde, dass bei regelgerechtem Verlauf die Information in den Machtbereich des Empfängers gelange, sie insbesondere nicht mehr vom Absender einseitig verändert oder gelöscht werden könne. Bei der verwendeten Vergabeplattform sei bereits durch das Absenden der Nachricht aus dem Vergabemanager des Auftraggebers – konkret durch die Betätigung des „Sende"-Buttons – damit zu rechnen, dass diese bei regelgerechtem Verlauf in den Machtbereich des Empfängers gelange.

Das Bieterpostfach des „AI Bietercockpits“ und der Bieterbereich der Vergabeplattform gehörten zum Machtbereich des Bieters. Die technische Ausgestaltung und Funktionsweise des AI Bietercockpits sei bezüglich des Empfangs von Nachrichten mit dem Versand bzw. dem Erhalt einer E-Mail vergleichbar. Das E-Mail-Postfach des Empfängers gehöre unstreitig zu dessen Machtbereich. Auch der Bieterbereich der hier verwendeten Vergabeplattform gehöre zum Machtbereich des Bieters. Dieser registriere sich auf der Vergabeplattform. Der ihm zugehörige Bieterbereich könne nur unter Angabe seines Benutzernamens und des von ihm gewählten Passwortes aufgerufen werden. Sofern ein Bieter sich einen Account auf einer E-Vergabeplattform durch Registrierung anlege, bestimmt er damit, dass dieses Postfach für den Empfang von Erklärungen an ihn genutzt werden könne. Warum die rechtlichen Folgen in diesem Fall andere sein sollten als beim Empfang einer E-Mail, ist für die Vergabekammer nicht ersichtlich. Das Postfach der Vergabeplattform sei dann der Sphäre des Bieters zuzuordnen, weil technisch sichergestellt sei, dass der Auftraggeber keinen Zugriff auf den Bieterbereich habe. Nachrichten, die einmal durch Betätigen des „Sende"-Buttons im Vergabemanager dessen Herrschaftsbereich verlassen hätten, könnten von diesem nicht zurückgeholt, geändert oder nachträglich gelöscht werden.

Für passwortgeschützte Nutzerkonten auf Webseiten (z. B. Online-Banking) habe der EuGH bereits entschieden, dass diese ein dauerhafter Datenträger sein könnten, wenn die Informationen dort für eine angemessene Dauer unverändert abgerufen und gespeichert werden könnten. Eine solche Webseite sei nicht anders zu behandeln als eine E-Mail, die im E-Mail-Account des Empfängers eingegangen sei.

Zusammenfassend hält die Vergabekammer fest, dass mit der hier verwendeten technischen Lösung zur Übermittlung des Informationsschreibens sowohl die Textform gewahrt worden als auch von einem Absenden i. S. d. § 134 Abs. 2 GWB am 20. November 2020 auszugehen sei. Damit habe die maßgebliche Wartefrist von 10 Tagen am 21. November 2020 begonnen und am 30. November 2020 geendet. Der Auftraggeber habe zudem im Informationsschreiben selbst über den frühestmöglichen Zeitpunkt des Vertragsschlusses, den 1. Dezember 2020, informiert. Folglich sei der am 1. Dezember 2020 erfolgte Zuschlag wirksam und könne gemäß § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB von der Vergabekammer im Rahmen des am 2. Dezember 2020 verspätet eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens nicht aufgehoben werden.

Praktische Auswirkungen:
Die Vergabekammer hält die konkrete Ausgestaltung des Bieterpostfaches des „AI Bietercockpits“ und den Bieterbereich der Vergabeplattform in technischer Ausgestaltung und Funktionsweise bezüglich des Empfangs von Nachrichten für vergleichbar mit dem Versand bzw. dem Erhalt einer E-Mail. Daher seien auch die rechtlichen Folgen nach Anlegen eines Accounts auf einer E-Vergabeplattform durch Registrierung vergleichbar, d. h., das Postfach der Vergabeplattform gehört dann zur Sphäre des Bieters, weil technisch sichergestellt ist, dass der Auftraggeber keinen Zugriff auf den Bieterbereich hat. Bieter tun daher gut daran, auch ihr elektronisches Postfach regelmäßig durchzusehen.

Zudem stellt die Vergabekammer klar, dass die durch den AI Vergabemanager versendeten Nachrichten dem Textformerfordernis des § 134 Abs. 2 GWB i. V. m. § 126b BGB entsprechen und damit weitreichende Rechtsfolgen für Bieter auslösen.

(Quelle: VOBaktuell Heft I/2022
Ass. jur. Anja Mundt)