Verstoß gegen die Pflicht zur produktneutralen Ausschreibung

Verstoß gegen die Pflicht zur produktneutralen Ausschreibung?
Beschluss der Vergabekammer des Bundes – VK 2 - 16/22 vom 8. März 2022

Auftraggeber sind zwar in der Bestimmung des  Auftragsgegenstandes frei, müssen aber die Pflicht zur produktneutralen Ausschreibung gemäß § 7 EU Abs. 2 Satz 1 VOB/A beachten. 

Ein Auftraggeber verstößt gegen diese Pflicht, wenn er durch die Vielzahl der Vorgaben verdeckt ein Leitfabrikat ausschreibt und nur ein einziges Produkt allen Vorgaben
gerecht werden kann. 

Enthält das Leistungsverzeichnis tatsächlich Spezifikationen, die allenfalls durch zwei Produkte am Markt erfüllt werden können, muss diese spezifische, wettbewerbsbeschränkende Einengung der in Betracht kommenden Produkte und des Bieterkreises durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt sein.
 
Eine wettbewerbsverengende Leistungsvorgabe ist gerechtfertigt, wenn sie sich aus den besonderen örtlichen Gegebenheiten des Leistungsortes ergibt.

Die diskriminierende Wirkung einer Leistungsvorgabe ist dann nicht feststellbar, wenn ein Bieter erfolgreich ein eigentlich veraltetes Produkt weiterhin anbietet, andere Bieter dies aus Wirtschaftlichkeitserwägungen heraus jedoch nicht (mehr) tun.

In der Entscheidung der Vergabekammer des Bundes ging es um die Frage, ob ein Verstoß gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung vorliegt.

Sachverhalt:
In dem zugrunde liegenden Verfahren schrieb die Auftraggeberin die Erneuerung eines Fahrzeugrückhaltesystems EU-weit offen aus. Gegenstand war die Ersetzung einer bereits vorhandenen Betonschutzwand (BSW) auf einer Länge von rund 1150 m in einer Kurve mit Gefälle, die einen besonderen Unfallschwerpunkt bildet. Die vorhandene Betonschutzwand ist 1,15 m hoch, weist die Wirkungsbereichsklasse W1 auf und wurde zum Teil am Rand einer Böschung errichtet. Ausgeschrieben wurde eine Betonschutzwand mit einer Mindesthöhe von 1,10 m über der Fahrbahnoberkante (FOK) und der Wirkungsbereichsklasse W1. 

Die Antragstellerin rügte vergeblich einen Verstoß gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung gemäß § 7 EU Abs. 2 VOB/A. Sie ist der Ansicht, den Leistungsvorgaben könne nur ein Fahrzeugrückhaltesystem eines Konkurrenten gerecht werden, das mit 1,15 m Höhe die geforderte Mindesthöhe von 1,10 m über FOK und zugleich die verschärfte Wirkungsbereichsklasse W1 erfülle. Nachdem die Auftraggeberin die Rüge zurückgewiesen hatte, beantragte die Antragstellerin die Nachprüfung.

Die Vergabekammer hält den Nachprüfungsantrag für unbegründet.

Aus den Gründen:
Grundsätzlich könne ein öffentlicher Auftraggeber frei darüber entscheiden, ob und was er beschaffen möchte. Die Grenze des Bestimmungsrechts bilde aber die Pflicht zur produktneutralen Ausschreibung gemäß § 7 EU Abs. 2 Satz 1 VOB/A. Die Norm verpflichte den öffentlichen Auftraggeber, die Leistungsbeschreibung so zu fassen, dass sie allen Unternehmen den gleichen Zugang zum Vergabeverfahren gewährt und nicht durch spezifische Vorgaben bestimmte Unternehmen oder Produkte begünstigt oder ausschließt. Gegen diese Verpflichtung verstoße nicht nur, wer ein Leitfabrikat offen und explizit in der Leistungsbeschreibung benenne, sondern auch, wer durch die Vielzahl der Vorgaben verdeckt ein Leitfabrikat ausschreibe und nur ein einziges Produkt allen Vorgaben gerecht werden könne.

Ob noch ein weiteres BSW-System – zusätzlich zu dem von der Antragstellerin benannten Konkurrenzprodukt – in einer erst kürzlich zugelassenen modifizierten Systemhöhe ebenfalls die Anforderungen erfülle, sei vorliegend streitig, müsse aber nicht entschieden werden. Denn unstreitig sei jedenfalls der Kreis der zur Auftragserfüllung in Betracht kommenden Produkte aufgrund der spezifischen Leistungsvorgaben sehr weitgehend eingeschränkt worden, weil die Auftraggeberin zum einen eine höhere Mindestsystemhöhe vorgegeben habe als die heute marktüblichen für Betonschutzwände und zum anderen die Betonschutzwand sich nur sehr geringfügig verschieben dürfe (Wirkungsbereichsklasse W1). 

Hinreichend gesichert erscheine, dass jedenfalls nur ein einzelnes BSW-Fertigbauteil – das von der Antragstellerin benannte Konkurrenzprodukt – diese Anforderungen auch ohne eine weitere modifizierende Zulassung erfülle. 

Somit stehe fest, dass das Leistungsverzeichnis tatsächlich Spezifikationen enthalte, die allenfalls durch zwei Produkte am Markt erfüllt werden könnten. Diese spezifische, wettbewerbsbeschränkende Einengung der in Betracht kommenden Produkte und des Bieterkreises bedürfe einer Rechtfertigung durch den Auftragsgegenstand. 

Die spezifischen Leistungsvorgaben sieht die Vergabekammer vorliegend durch den Auftragsgegenstand gemäß § 7 EU Abs. 2 Satz 1 VOB/A gerechtfertigt, da die Auftraggeberin nachvollziehbare, objektive und auftragsbezogene Gründe angegeben und die Bestimmung folglich willkürfrei getroffen habe, solche Gründe tatsächlich vorhanden seien und die Bestimmung andere Wirtschaftsteilnehmer nicht diskriminiere.

So habe die Auftraggeberin nachvollziehbar dargelegt, dass die besonderen örtlichen Gegebenheiten des Streckenabschnitts es erforderten, die dort bereits seit dem Jahr 2002/2003 bestehende Betonschutzwand mit einer Systemhöhe von 1,15 m im Rahmen der Sanierungsarbeiten durch eine neue Betonschutzwand mit einer Mindesthöhe von 1,10 m und weitgehend gleichbleibenden Anforderungen auch an den Wirkungsbereich zu ersetzen. Unstreitig sei auch, dass es sich bei dem Streckenabschnitt in einer engen Kurve mit erheblicher Steigung um einen Unfallschwerpunkt handle. Zudem sei kein Platz vorhanden, der die Aufstellung von Betonschutzwänden mit höheren Sicherheitsklassen gestatten würde. Aufgrund dieses Platzmangels sei auch nachvollziehbar dargelegt, dass eine Betonschutzwand mit dem geringstmöglichen Wirkungsbereich W1 und entsprechend kleiner Aufstellfläche erforderlich sei.

Da die vorgegebene Mindestsystemhöhe von 1,10 m einen höheren Schutz gegen die Gefahr eines unfallbedingten Überkippens von Fahrzeugen – und insbesondere von Gefahrguttransportern – gewährleiste als alternative Betonschutzwände mit einer geringen Systemhöhe von 0,8 m oder 0,9 m, sei dies nicht beurteilungsfehlerhaft. Die Auftraggeberin bewege sich innerhalb ihres Beurteilungsspielraums, wenn sie mit Blick auf den knappen zur Verfügung stehenden Platz ihr Leistungsbestimmungsrecht dahingehend ausübe, ein möglichst hohes Schutzniveau zu realisieren und das Ziel verfolge, jedenfalls nicht hinter das bereits bestehende Schutzniveau im Zuge einer Sanierung zurückzufallen.

Dieser Bestandschutz rechtfertige die Mindestsystemhöhe von 1,10 m auch unter dem Gesichtspunkt des Lärmschutzes. Unstreitig würden sich infolge der Sanierung die Lärmimmissionen in angrenzenden, bereits erheblich belasteten Wohngebieten erhöhen, wenn die Auftraggeberin eine geringere Systemhöhe als im Bestand zulassen würde. Es sei daher nicht beurteilungsfehlerhaft, wenn die Auftraggeberin Leistungsvorgaben mache, die einen möglichst weitgehenden Bestandschutz zugunsten der Anwohner gewährleisteten.

Auch wirkten die Leistungsvorgaben nicht diskriminierend zu Lasten der Antragstellerin. Vielmehr scheine es sich vorliegend um einen Fall zu handeln, in dem ein Bieter erfolgreich ein – nach Auffassung der Antragstellerin – eigentlich veraltetes Produkt mit Systemhöhen weiterhin anbiete, die mittlerweile von anderen Bietern am Markt nicht mehr angeboten werden. Die Antragstellerin mache auch nicht geltend, dass es grundsätzlich unmöglich wäre, ein solches Produkt selbst noch oder wieder anzubieten und die erforderlichen Kennzeichnungen und Zertifikate dafür einzuholen. Dieser Aufwand werde lediglich als nicht wirtschaftlich eingeschätzt, weil die heutige Nachfrage sich in Richtung niedriger Systemhöhen und damit wirtschaftlicherer Systemlösungen entwickelt habe.

Wenn allerdings einzelne Bieter gleichwohl ein entsprechendes Angebot aufrechterhielten, die entsprechenden Kosten trügen und auf diese Weise einen weiterhin aktuell bestehenden Bedarf – wie hier aufgrund besonderer örtlicher Gegebenheiten – befriedigten, scheine dieser Wettbewerbsvorteil auf einer marktgerechten Produktdifferenzierung im Wettbewerb und nicht auf diskriminierenden Leistungsvorgaben des öffentlichen Auftraggebers zu beruhen. Eine Diskriminierung der Antragstellerin im Sinne einer ungerechtfertigten Bevorzugung eines konkurrierenden Bieters erkennt die Vergabekammer bei dieser Sachlage nicht. Daher sei vorliegend nicht gegen § 7 EU Abs. 2 Satz 1 VOB/A verstoßen worden.

Praktische Auswirkungen:
Die Vergabekammer stellt klar: Auftraggeber sind zwar in der Bestimmung des Auftragsgegenstandes frei, müssen aber die Pflicht zur produktneutralen Ausschreibung gemäß § 7 EU Abs. 2 Satz 1 VOB/A beachten. Enthält das Leistungsverzeichnis tatsächlich Spezifikationen, die allenfalls durch zwei Produkte am Markt erfüllt werden können, muss der Auftraggeber diese spezifische, wettbewerbsbeschränkende Einengung der in Betracht kommenden Produkte und des Bieterkreises durch den Auftragsgegenstand rechtfertigen können. Eine solche Rechtsfertigung für eine wettbewerbsverengende Leistungsvorgabe kann sich aus den besonderen örtlichen Gegebenheiten des Leistungsortes ergeben.

(Quelle: VOBaktuell Heft III/2022
Ass. jur. Anja Mundt)