Vergabeverstoß bei gravierenden Abweichungen und Ergänzungen der Vergabeunterlagen von den Regeln der VOB/B zulasten des Auftragnehmers

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Vergabeverstoß bei gravierenden Abweichungen und Ergänzungen der Vergabeunterlagen von den Regeln der VOB/B zulasten des Auftragnehmers
Beschluss der Vergabekammer Südbayern – 3194.Z3-3_01-21-44 vom 14. Februar 2022

Leitsätze:
Versucht ein Auftraggeber in einem EU-weiten Vergabeverfahren über Bauleistungen entgegen § 8a EU VOB/A anstatt der VOB/B ein weitgehend abweichendes vertragliches Regelwerk zur Anwendung zu bringen, kann der Verstoß gegen § 8a EU VOB/A im Vergabenachprüfungsverfahren geltend gemacht werden, da es sich (auch) um eine vergaberechtliche Norm handelt.

Eine zivilrechtliche Prüfung von Vertragsklauseln in Form einer AGB-Inhaltskontrolle findet im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren nicht statt.

Die Vergabekammer hatte zu entscheiden, ob ein Vergaberechtsverstoß vorliegt, wenn die Vergabeunterlagen gravierend zulasten des Auftragnehmers von den Regeln der VOB/B abweichen.

Sachverhalt:
Die Auftraggeberin schrieb den Neubau eines Feuerwehrgerätehauses aus. Das Leistungsverzeichnis enthielt im Abschnitt Bauvertrag umfassende Regelungen und Vertragsbedingungen zur Bauausführung, die in einer Vielzahl von Punkten von den Regelungen der VOB/B abwichen und sich teilweise am Bauvertragsrecht des BGB (§ 650a ff. BGB) orientierten. Die Leistungsbeschreibung modifizierte und konkretisierte an mehreren Stellen zahlreiche Vorschriften der VOB/B. Die Antragstellerin rügte, dass die Ausschreibungsunterlagen gegen § 8a VOB/A verstoßen, da sie gravierende Abweichungen und Ergänzungen zu den Regeln der VOB/B aufweisen. Es sei ihr deshalb unmöglich, ein Angebot abzugeben. Nachdem ihren Rügen nicht abgeholfen wurde, stellte sie einen Nachprüfungsantrag.

Dem gab die Vergabekammer statt.

Aus den Gründen:
Der Nachprüfungsantrag sei zulässig, die Antragstellerin insbesondere antragsbefugt. Ein Unternehmen, das rechtzeitig Vergabeverstöße gerügt habe, die eine Korrektur der Vergabeunterlagen erfordern würden, müsse kein Angebot in einem seiner Ansicht nach fehlerhaften Vergabeverfahren abgeben, um antragsbefugt zu sein. Die Antragstellerin habe ausreichend vorgetragen, warum sie eine Angebotsabgabe für unzumutbar gehalten habe. Insbesondere müsse ein Bieter in einer solchen Situation nicht darlegen,  dass ihm eine Angebotsabgabe unmöglich oder er an jeglicher zumutbaren Kalkulation gehindert wäre.

Die von der Antragstellerin gerügten Verstöße gegen vergaberechtliche Normen seien auch bieterschützend und könnten in einem Nachprüfungsverfahren geltend gemacht werden. Nach Auffassung der Vergabekammer gilt dies auch für Verstöße gegen § 8a EU VOB/A. Dieser regele, dass bei Aufträgen, die im Rahmen von Vergabeverfahren nach der VOB/A vergeben werden, die Allgemeinen Vertragsbedingungen für die Ausführung von Bauleistungen (VOB/B) und die Allgemeinen Technischen Vertragsbedingungen für Bauleistungen (VOB/C) Bestandteile des Vertrags werden müssen. Er treffe damit zwar primär Regelungen für die spätere Phase der Auftragsdurchführung, diese seien allerdings für die Kalkulation der Bieter im Vergabeverfahren relevant.

Vergaberechtliche Intention der Norm sei es, dass die VOB/B als Ganzes Anwendung finde und damit eine gesonderte Inhaltskontrolle der einzelnen Regelungen der VOB/B nach den §§ 307 ff. BGB entfalle. Im Vergabeverfahren werde dadurch dem Interesse des Bieters Rechnung getragen, sein Angebot unabhängig von Unsicherheiten über die Geltung der Vorschriften der VOB/B und der Frage der Inhaltskontrolle von AGB kalkulieren zu können. Würde jeder Auftraggeber die Bauverträge selbst erstellen, müssten diese – auch wenn sie sich am Leitbild des Bauvertragsrechts des BGB orientierten und keine die Auftragnehmer unangemessen beeinträchtigenden Regelungen enthielten – von den Bietern in jedem Einzelfall aufwändig kalkulatorisch bewertet werden. Dies solle § 8a EU VOB/A vermeiden. Die Norm könne insoweit auch als Ausprägung des bieterschützenden Verbots in § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A, dem Bieter ungewöhnliche Wagnisse aufzuerlegen, angesehen werden.

Vor dem Hintergrund der Kalkulationsrelevanz könnten Verstöße eines Auftraggebers gegen § 8a EU VOB/A nach Ansicht der Vergabekammer ohne Weiteres im Nachprüfungsverfahren geltend gemacht werden, da es sich (auch) um vergaberechtliche Normen handle. Jedenfalls wenn die Abweichungen von der VOB/B zu einer Verschärfung der Regelungen zu Lasten des Bieters führen oder führen könnten, sei die Norm bieterschützend.

Hier habe die Auftraggeberin in ihren Besonderen Vertragsbedingungen ein in weiten Bereichen von der VOB/B abweichendes Regelwerk erstellt, das sich zum Teil am Bauvertragsrecht des BGB orientiert. Die VOB/B gelte demgegenüber nur nachrangig und mit zahlreichen Ergänzungen durch die Besonderen Vertragsbedingungen. Da aufgrund der Vielzahl der Abweichungen nicht mehr davon auszugehen sei, dass die VOB/B als Ganzes vereinbart und eine AGB-rechtliche Privilegierung der Regelungen gegeben sei, unterliege die Antragstellerin den Kalkulationsrisiken, vor denen § 8a EU VOB/A die Bieter schützen solle.

Zudem benachteiligten zahlreiche Änderungen den künftigen Auftragnehmer im Vergleich zu den Regelungen der VOB/B. Dies führe zu weiteren Kalkulationsrisiken, die die Zuschlagschancen der Antragstellerin potentiell verschlechterten, und könne von ihr im Nachprüfungsverfahren geltend gemacht werden.

Dass § 8a EU VOB/A nicht als bieterschützend angesehen werden könne, weil die RL 2014/24/EU keine entsprechende Regelung enthalte, verneint die Vergabekammer. Die Mitgliedsstaaten dürften über die Regelungen der Richtlinie hinausgehende bieterschützende Normen schaffen, wie z. B. die deutschen Regelungen zur Losvergabe.

Der Nachprüfungsantrag sei auch begründet. Die Vergabeunterlagen verstießen eklatant gegen § 8a EU VOB/A.

Nach § 8a EU Abs. 1 VOB/A sei in den Vergabeunterlagen vorzuschreiben, dass die Allgemeinen Vertragsbedingungen für die Ausführung von Bauleistungen (VOB/B) und die Allgemeinen Technischen Vertragsbedingungen für Bauleistungen (VOB/C) Bestandteile des Vertrags werden. Nach § 8a EU Abs. 2 Nr. 1 S. 1 VOB/A müssten die Regelungen der VOB/B grundsätzlich unverändert bleiben.

Dadurch solle vermieden werden, dass durch die abweichenden Vereinbarungen der Parteien in die Regelungen der VOB/B eingegriffen werde und die VOB/B so ihre Privilegierung als Allgemeine Geschäftsbedingung verliere.

Ausnahmsweise könnten Auftraggeber, die ständig Bauleistungen vergeben, die Regelungen der VOB/B für die bei ihnen allgemein gegebenen Verhältnisse durch Zusätzliche Vertragsbedingungen ergänzen, § 8a EU Abs. 2 Nr. 1 S. 2 VOB/A. Ferner könnten sie nach § 8a EU Abs. 2 Nr. 2 VOB/A die Regelungen der VOB/B unter bestimmten Voraussetzungen durch Besondere Vertragsbedingungen ergänzen. Vorliegend spreche viel dafür, dass die vertraglichen Regelungen der Vergabeunterlagen als Zusätzliche Vertragsbedingungen i. S. d. § 8a EU Abs. 2 Nr. 1 S. 2 VOB/A anzusehen seien.

Zusätzliche Vertragsbedingungen dürften den Allgemeinen Vertragsbedingungen der VOB/B jedoch nicht widersprechen, § 8a EU Abs. 2 Nr. 1 S. 3 VOB/A, sondern die Regelungen der VOB/B allenfalls konkretisieren oder näher ausgestalten. Eine Konkretisierung komme beispielsweise bei unbestimmten Rechtsbegriffen der VOB/B in Betracht, nähere Ausgestaltungen insbesondere dort, wo die VOB/B eine gesonderte Abrede zwischen den Parteien voraussetze. Eine Konkretisierung bzw. Ausgestaltung der VOB/B sei auch bei sogenannten Öffnungsklauseln („wenn nichts anderes vereinbart ist“) in der VOB/B möglich.

Die von der Auftraggeberin getroffenen Regelungen gehen allerdings nach Ansicht der Vergabekammer weit über diese zulässigen Konkretisierungen oder Ausgestaltungen hinaus. So solle die VOB/B nach den Regelungen in den Vergabeunterlagen gerade nicht als Allgemeine Vertragsbedingungen vereinbart sein. An ihre Stelle träten sogenannte „Besondere Vertragsbedingungen“, die VOB/B solle nur subsidiär und im Rahmen der zahlreichen Modifikationen gelten.

Eine unzulässige Konkretisierung oder Ausgestaltung stellten beispielsweise das Recht zur Ersatzvornahme ohne vorherige Auftragsentziehung abweichend von § 4 Abs. 7 VOB/B dar, ferner die in der VOB/B nicht vorgesehene Berechtigung der Auftraggeberin, neue Vertragsfristen nach billigem Ermessen festzulegen, die Verpflichtung des Auftragnehmers zur Behinderungsanzeige selbst bei Offenkundigkeit entgegen § 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B, die Verlängerung der Frist des § 6 Abs. 7 VOB/B auf 6 Monate, der Ausschluss von § 7 und 12 Abs. 6 VOB/B sowie der Ausschluss von Teilabnahme und fiktiver Abnahme in Abweichung von § 12 Abs. 2 und Abs. 5 VOB/B.

Auf Vertragsklauseln der Auftraggeberin, bei denen die Frage einer zulässigen Abweichung von der VOB/B von der Auslegung zivilrechtlicher Rechtsprechung abhänge, komme es für die Annahme eines Verstoßes gegen § 8a EU Abs. 2 Nr. 1 S. 3 VOB/A nicht an.

Die Auftraggeberin habe keine punktuellen Abweichungen von den Regelungen der VOB/B oder dort vorgesehene Ausgestaltungen oder Konkretisierungen, sondern ein tiefgreifend geändertes Regelwerk gewollt, das sich teilweise maßgeblich am Bauvertragsrecht des BGB orientiere. Ein solches sei aber nach § 8a EU Abs. 2 Nr. 1 S. 3 VOB/A bei öffentlichen Bauausschreibungen unzulässig.

Für die vergaberechtliche Beurteilung sei es belanglos, ob die Regelungen dem gesetzlichen Leitbild des BGB-Bauvertragsrechts entsprechen oder einer AGB-Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB standhalten würden. Dies sei nicht von der Vergabekammer zu entscheiden, sondern von den ordentlichen Gerichten. Intention des § 8a EU VOB/A sei es, dass sich derartige Fragen in einem Vergabeverfahren überhaupt nicht stellten.

An diesem Ergebnis würde sich auch nichts ändern, wenn man die Regelungen als Besondere Vertragsbedingungen i. S. d. § 8a EU Abs. 2 Nr. 2 S. 2 VOB/A ansehe, auch wenn dafür nach Auffassung der Vergabekammer keine Anhaltspunkte ersichtlich seien. Denn auch die Besonderen Vertragsbedingungen sollten sich auf Fälle beschränken, in denen nach der VOB/B besondere Vereinbarungen ausdrücklich vorgesehen seien und auch nur, soweit es die Eigenart der Leistung und ihre Ausführung erforderten.

Auch Besondere Vertragsbedingungen i. S. d. § 8a EU Abs. 2 Nr. 2 S. 2 VOB/A erlaubten jedoch kein so grundlegend von der VOB/B abweichendes Regelwerk wie das der Auftraggeberin. Zudem fehle eine dokumentierte Begründung, dass die Eigenart der Bauleistung und ihre Ausführung Besondere Vertragsbedingungen erfordern würden.

Da zumindest einige der Abweichungen von der VOB/B – wie das Recht zur Ersatzvornahme ohne vorherige Auftragsentziehung abweichend von § 4 Abs. 7 VOB/B oder die Verlängerung der Frist des § 6 Abs. 7 VOB/B auf 6 Monate – auch geeignet seien, die Rechtsstellung des Auftragnehmers im Vertragsvollzug gegenüber einer unveränderten Vereinbarung der VOB/B zu verschlechtern, läge auch dann eine Rechtsverletzung der Antragstellerin vor, wenn dies Voraussetzung für den Bieterschutz der Regelung wäre.

Die Vergabekammer Südbayern tendiert allerdings dazu, dass eine Verschlechterung der Rechtsstellung des künftigen Auftragnehmers im Vertragsvollzug gegenüber einer unveränderten Vereinbarung der VOB/B zumindest bei einem derart eindeutigen Verstoß gegen § 8a EU keine zwingende Voraussetzung für die Annahme von Bieterschutz nach § 97 Abs. 6 GWB ist.

Praktische Auswirkungen:
Auftraggeber sollten beachten, dass sie gegen § 8a EU VOB/A verstoßen, wenn die Vergabeunterlagen gravierend zulasten des Auftragnehmers von den Regeln der VOB/B abweichen. Bieter können diesen Verstoß im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens geltend machen.

(Quelle: VOBaktuell Heft II/2022
Ass. jur. Anja Mundt)