Restleistungen nach Kündigung des Ursprungsvertrages erfordern neue Ausschreibung
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Restleistungen nach Kündigung des Ursprungsvertrages erfordern neue Ausschreibung
Beschluss der Vergabekammer Nordbayern, RMF-SG21-3194-9-31 vom 20. Februar 2025
Ein Auftraggeber, der nach einer Kündigung des ursprünglich ausgeschriebenen Auftrags die restlichen Leistungen ohne neue Ausschreibung an einen Dritten vergibt, handelt vergaberechtswidrig. Denn die Ersetzung eines gekündigten Auftragnehmers stellt eine wesentliche Auftragsänderung dar, die ein neues Vergabeverfahren erfordert.
Bei der Berechnung des Schwellenwertes für die Anwendung des GWB ist in diesem Fall der gesamte gekündigte ursprüngliche Auftrag maßgeblich, nicht nur die restliche Leistung.
Eine äußerste Dringlichkeit der Leistung i. S. d. § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A kann weder mit einer zügigen Weiterführung der Arbeiten zur schnelleren Sicherstellung der Nutzung eines Neubaugebäudeteils noch mit einer sparsamen und wirtschaftlichen Mittelverwendung gemäß dem Haushaltsrecht begründet werden.
In dem Verfahren ging es um die Frage, ob restliche Leistungen nach der Kündigung eines Auftrags eine neue Ausschreibung erfordern.
Sachverhalt
Die Auftraggeberin schrieb europaweit Abbrucharbeiten aus, die sie an die Firma P. vergab. Parallel vergab sie an die Firma R. Bauarbeiten, nachdem sie diese ebenfalls europaweit ausgeschrieben hatte. In der Folge kündigte die Auftraggeberin der P. Die Antragstellerin, die von vertraglichen Schwierigkeiten mit der für die Abbruchleistungen ursprünglich beauftragen P. und der bestehenden Absicht, demnächst eine andere Firma im Zuge einer Ersatzvornahme mit den noch ausstehenden Abbruchleistungen zu beauftragen, aus der Lokalpresse erfahren hatte, bat die Auftraggeberin um Bestätigung, dass die restlichen Abbrucharbeiten als eigenständiges Los ausgeschrieben werden. Die Auftraggeberin teilte daraufhin mit, dass keine Ausschreibungspflicht bestünde. Den Rügen der Antragstellerin bezüglich der Vergabe der restlichen Rückbauarbeiten half sie nicht ab. Aus der Bekanntmachung einer Auftragsänderung geht hervor, dass die Firma R. im Wege von Nachträgen die Abbrucharbeiten mit Nachunternehmern ausführt.
Daraufhin beantragte die Antragstellerin die Nachprüfung. Nach Ansicht der Vergabekammer zu Recht.
Aus den Gründen
Bei den streitgegenständlichen Restleistungen der Abbrucharbeiten handle es sich um einen öffentlichen Bauauftrag i. S. v. § 103 Abs. 3 GWB, der den maßgeblichen Schwellenwert nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. Art. 4 Richtlinie 2014/24/EU übersteige.
Für das Erreichen des Schwellenwertes sei auf den voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer abzustellen (§ 1 Abs. 2 Satz 2 EU VOB/A i. V. m. § 3 Abs. 1 VgV). Isoliert betrachtet liege der Auftragswert der ausstehenden Abbruchleistungen zwar unterhalb des geltenden Schwellenwertes. Allerdings seien nicht lediglich diese Restleistungen Gegenstand der Auftragswertschätzung. Bei einer Kündigung des Altauftrags und einer neuen Vergabe der noch nicht fertiggestellten oder nur mangelhaft erbrachten Leistungen sei für den nach § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert auf den gekündigten Altauftrag abzustellen.
§ 3 Abs. 9 VgV, der zur Folge hätte, dass für die Frage einer Schwellenwertüberschreitung allein auf den Auftragswert der Restabbrucharbeiten abzustellen wäre, komme vorliegend nicht in Betracht. Nach der Vorschrift könne der Auftraggeber bei der Vergabe einzelner Lose zwar von § 3 Abs. 7 Satz 3 VgV abweichen, wenn der geschätzte Nettowert des betreffenden Loses bei Bauleistungen unter 1 Mio. Euro liege und die Summe der Nettowerte dieser Lose 20 Prozent des Gesamtwerts aller Lose nicht übersteigt. Der Auftraggeber müsse jedoch die Lose, die unter das 20 Prozent-Kontingent fallen sollen, bei Einleitung des Vergabeverfahrens festlegen und diese Festlegung dokumentieren. Dies sei vorliegend nicht geschehen. Eine nachträgliche Änderung der Loszuteilung sei durch die Selbstbindung des Auftraggebers aber nicht mehr möglich.
Die Antragstellerin sei auch antragsbefugt. Unternehmen, die keinen Teilnahmeantrag oder kein Angebot abgegeben hätten, aber substantiiert rügten, gerade hieran durch vergaberechtswidriges Verhalten der Vergabestelle gehindert worden zu sein, seien insoweit grundsätzlich antragsbefugt. Die Antragstellerin habe vorliegend kein Angebot abgeben können, weil die Auftraggeberin keine europaweite Ausschreibung durchgeführt habe. Daraus folge ferner ein der Antragstellerin drohender Schaden wegen fehlender Zuschlagsmöglichkeit.
Der bereits erteilte Zuschlag stehe der Statthaftigkeit des Nachprüfungsverfahrens nicht entgegen i. S. v. § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB, da der Nachprüfungsantrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrags gemäß § 135 GWB gerichtet gewesen sei.
Der Nachprüfungsantrag in Form eines Fortsetzungsfeststellungsantrages sei auch begründet.
Die Auftraggeberin könne sich vorliegend nicht auf § 30 Abs. 2 KommHV-Doppik i. V. m. der Bekanntmachung zur Vergabe von Aufträgen im kommunalen Bereich berufen. Die genannte Bekanntmachung regle die Vergabe von Aufträgen, soweit nicht Bundesrecht vorgehe. Vorliegend finde allerdings für die streitgegenständliche Leistung der 4. Teil des GWB Anwendung, mithin vorrangiges Bundesrecht.
Konkret finde § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GWB Anwendung, infolgedessen der Anwendungsbereich des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB nicht eröffnet sei.
Gemäß § 132 Abs. 1 Satz 1 GWB erforderten wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit ein neues Vergabeverfahren. Nach § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GWB liege eine wesentliche Änderung insbesondere vor, wenn ein neuer Auftragnehmer den Auftragnehmer in anderen als den in § 132 Absatz 2 Satz 1 Nr. 4 GWB vorgesehenen Fällen ersetzt. Trotz der erfolgten Kündigung des Altauftrags handle es sich um einen Fall der Ersetzung des Auftragnehmers während der Vertragslaufzeit.
Nach der Systematik des § 132 GWB könne der Auftragnehmer in einem solchen Fall ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens nur unter den Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GWB ersetzt werden. Diese Voraussetzungen lägen hier jedoch nicht vor. Damit sei § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB nicht anwendbar.
Auch § 132 Abs. 3 GWB sei nicht einschlägig. Die Beauftragung des Drittunternehmens im Wege von Nachträgen mit Nachunternehmereinsatz stelle eine Änderung des Gesamtcharakters des Auftrags dar.
Daher kommt die Vergabekammer zu dem Ergebnis, dass die streitgegenständlichen Restabbrucharbeiten auch nach der Kündigung des ursprünglichen Auftragnehmers erneut hätten öffentlich ausgeschrieben werden müssen.
Im Übrigen komme insbesondere § 3a Abs. 3 Nr. 4 EU VOB/A nicht in Betracht. Ungeachtet dessen, dass diese Vorschrift lediglich die Wahl der Verfahrensart betreffe, lägen deren Voraussetzungen nicht vor. Eine äußerste Dringlichkeit der Leistung aus zwingenden Gründen infolge von Ereignissen, die die Auftraggeberin nicht verursacht habe und nicht habe voraussehen können, sodass selbst die Fristen in § 10a EU, § 10b EU, § 10c EU VOB/A nicht hätten eingehalten werden können, sei vorliegend nicht gegeben. Eine zügige Weiterführung der Arbeiten zur schnelleren Sicherstellung der Nutzung eines Neubaugebäudeteils sowie eine sparsame und wirtschaftliche Mittelverwendung gemäß dem Haushaltsrecht genügten hierfür nicht.
Praktische Auswirkungen
Die Vergabekammer hat klar entschieden, dass eine Vergabe von restlichen Leistungen an einen Dritten nach einer Kündigung des ursprünglich ausgeschriebenen Auftrags nicht ohne neue Ausschreibung zulässig ist. Denn die Ersetzung eines gekündigten Auftragnehmers stellt eine wesentliche Auftragsänderung dar. Für die Berechnung des Schwellenwertes für die Anwendung des GWB ist der gesamte gekündigte ursprüngliche Auftrag maßgeblich, nicht nur die restliche Leistung. Ferner können Auftraggeber die äußerste Dringlichkeit der Leistung i. S. d. § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A weder mit einer zügigen Weiterführung der Arbeiten zur schnelleren Sicherstellung der Nutzung eines Gebäudes noch mit einer sparsamen und wirtschaftlichen Mittelverwendung gemäß dem Haushaltsrecht begründen.
(Quelle: VOBaktuell Heft III/2025
Ass. jur. Anja Mundt)