Kein Ausnutzen eines erkennbaren Kalkulationsirrtums

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Kein Ausnutzen eines erkennbaren Kalkulationsirrtums
Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden – 16 U 975/19 vom 2. Juli 2019

1. Ist der Abstand des betroffenen Angebotes zum nächsthöheren Angebot besonders groß, indiziert dies das Vorliegen eines Kalkulationsirrtums. Dies ist der Fall bei einem Angebot, das 24 Prozent unterhalb des nächsthöheren Angebotes liegt.

2. Für einen Kalkulationsfehler und gegen ein gezielt erstelltes Niedrigpreisangebot spricht es, wenn der Bieter in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Eröffnungstermin einen Kalkulationsfehler offenlegt und um Herausnahme seines Angebotes aus der Wertung bittet.

3. Ein Kalkulationsirrtum ist erheblich und hindert den Auftraggeber an der Erteilung des Zuschlags, wenn das Angebot nicht nur knapp 24 Prozent unterhalb des Angebotes
des nächstplatzierten Bieters liegt, sondern auch noch um 14,2 Prozent unterhalb eines mittleren angemessenen Preises.

In der Entscheidung ging es um die Frage, ob die Annahme eines Angebotes durch einen Auftraggeber eine unzulässige Rechtsausübung gemäß § 241 Abs. 2 BGB darstellt, wenn der Auftraggeber auf der Durchführung des Vertrages besteht, obwohl er weiß oder wissen müsste, dass das Angebot auf einem erheblichen Kalkulationsirrtum des Bieters beruht und die Durchführung des Auftrags für den Bieter unzumutbar ist.

Sachverhalt:
Die klagende Gemeinde verlangt von dem beklagten Unternehmen Schadensersatz wegen Nichterfüllung eines Bauvertrages. Die Klägerin schrieb Rohbauarbeiten aus. Die Beklagte gab das günstigste Angebot ab. Nach Durchführung des Eröffnungstermins teilte sie der Klägerin mit, ihr Angebot beruhe auf einem Kalkulationsfehler. In ihrem Kalkulationsprogramm sei der Faktor 0,5 für die Berechnung der Leistungsstunden hinterlegt worden, mit der Folge, dass in der Kalkulation lediglich die Hälfte der erforderlichen Leistungsstunden und damit auch nur die Hälfte der erforderlichen Löhne inklusive Grundlagen und Zuschläge enthalten sei. Die Beklagte erklärte ferner aufgrund des Kalkulationsirrtums, welcher nicht unerhebliche wirtschaftliche Folgen für ihr Unternehmen nach sich ziehe, die Rücknahme ihres Angebotes und bat die Klägerin, sie von der Wertung auszuschließen.

Dem kam die Klägerin nicht nach. Vielmehr erteilte sie der Beklagten den Zuschlag für die ausgeschriebene Bauleistung. Nachdem die Beklagte daraufhin erklärte, sie werde den Auftrag für das ausgeschriebene Bauvorhaben nicht ausführen, erteilte die Klägerin der Zweitplatzierten den Auftrag und verlangte von der Beklagten Schadensersatz wegen Nichterfüllung des mit dem Zuschlag an die Beklagte zustande gekommenen Bauvertrages.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung der Klägerin blieb vor dem OLG ebenfalls erfolglos.

Aus den Gründen:
Nach Ansicht des OLG hat die Berufung keine Aussicht auf Erfolg, weil der von der Klägerin geltend gemachte Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung des mit dem Zuschlag an die Beklagte zustande gekommenen Bauvertrages ausgeschlossen ist. Auch wenn mit diesem Zuschlag der Klägerin auf das Angebot der Beklagten ein Bauvertrag zustande gekommen sei, welchen die Beklagte nicht erfüllt habe, sei der grundsätzlich in Betracht kommende Schadensersatzanspruch aus §§ 5 Nr. 4, 8 Nr. 3 Abs. 2 VOB/B, 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB ausgeschlossen, weil die Klägerin mit der Zuschlagserteilung die ihr gegenüber der Beklagten als Bieterin im Vergabeverfahren gemäß § 241 Abs. 2 BGB obliegende Pflicht zur Rücksichtnahme auf deren Rechte, Rechtsgüter und Interessen verletzt habe.

Zwischen den Parteien sei zwar ein Bauvertrag zustande gekommen, indem die Klägerin das Angebot der Beklagten angenommen habe. Allerdings sei diese Angebotsannahme durch die Klägerin als Verstoß gegen die ihr obliegende Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB anzusehen.

Es könne nämlich eine unzulässige Rechtsausübung gemäß § 241 Abs. 2 BGB darstellen, wenn der Empfänger ein Vertragsangebot annehme und auf der Durchführung des Vertrages bestehe, obwohl er wisse (oder sich treuwidrig der Kenntnisnahme entzogen habe), dass das Angebot auf einem Kalkulationsirrtum des Erklärenden beruhe. Erforderlich sei dafür ein für den Auftraggeber erkennbarer erheblicher Kalkulationsirrtum des Bieters und die Unzumutbarkeit der Durchführung des Auftrages für diesen. Beide Voraussetzungen lägen hier vor.

Infolge der Verwendung des Faktors 0,5 bei der Berechnung der Leistungsstunden habe die Beklagte im Bereich der Lohnstunden eine Unterwertkalkulation bzw. eine Unterkalkulation erzeugt. Demzufolge sei von einer objektiv fehlerhaften Kalkulation der Beklagten auszugehen.

Zur Überzeugung des Senats liegen ausreichende Indiztatsachen vor, um auf die unbewusste Herbeiführung der kalkulatorischen Unterdeckung durch die Beklagte als Bieterin zu schließen, mithin vom Vorliegen eines Kalkulationsirrtums auszugehen.

Indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Kalkulationsirrtums habe es, wenn der Abstand des betroffenen Angebots zum nächsthöheren Angebotspreis besonders groß sei, so wie hier der Angebotspreis der Beklagten etwa 24 Prozent unterhalb des Angebotspreises des nächsthöheren Bieters liege.

Als weiteres Indiz für eine unbewusste kalkulatorische Unterdeckung und damit einen Kalkulationsirrtum auf Seiten der Beklagten bei der Angebotserstellung führt das OLG den Umstand an, dass sich bei der stichprobenhaften Untersuchung für maßgebliche Positionen mit Eigenleistungen der Klägerin unter Verwendung des korrigierten Faktors kein homogenes Gesamtbild hinsichtlich eines durchgängigen Kalkulationsfehlers ergibt, wie dies im Falle eines planvollen Vorgehens von Seiten eines gezielt eine Niedrigpreiskalkulation erstellenden Bieters zu erwarten gewesen wäre.

Schließlich sprächen auch die Umstände der Offenlegung des Kalkulationsfehlers gegenüber der Klägerin für einen Kalkulationsirrtum und gegen eine zielgerichtet herbeigeführte kalkulatorische Unterdeckung. So habe die Beklagte in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Eröffnungstermin den – tatsächlich bestehenden – Kalkulationsfehler offengelegt und um eine Herausnahme ihres Angebotes aus der Wertung gebeten. Sie habe damit auf den ihr infolge der Angebotseröffnung bekannt gewordenen großen Abstand ihres Angebotes zum nächsthöheren Angebot sehr schnell reagiert. Der Wunsch nach dem (sofortigen) Ausscheiden aus dem Vergabeverfahren mit der Folge, dass es zu einem Vertragsschluss nicht kommt, passe aber nicht zu den Zielen eines Niedrigpreisangebotes.

Im Ergebnis ist der Senat davon überzeugt, dass dem von der Beklagten im Vergabeverfahren abgegebenen Angebot kein (bewusster) Kalkulationsfehler, sondern ein Kalkulationsirrtum zugrunde gelegen habe. Dieser sei für die Klägerin auch erkennbar gewesen, weil die Beklagte sie vor Auftragsvergabe auf die kalkulatorische Unterdeckung hingewiesen und ihr die Urkalkulation übergeben habe.

Die Ausführung des von einem erheblichen Kalkulationsirrtum beeinflussten Angebotes sei dem Bieter nicht zumutbar, wenn ihm aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden könne, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer auch nur annähernd äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen. Die Verpflichtung, aus Rücksicht auf die Interessen des Bieters von der Zuschlagserteilung abzusehen, bestehe nicht erst, wenn dessen wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel stehe. Vielmehr sei die Schwelle zur Unzumutbarkeit der Auftragsausführung in der Zusammenschau aller Umstände zur Überzeugung des Senats im vorliegenden Falle überschritten.

Denn das Angebot der Beklagten habe nicht nur knapp 24 Prozent unterhalb des Angebotes der Zweitplatzierten, sondern zudem um 14,2 Prozent unterhalb des vom Sachverständigen gebildeten mittleren angemessenen Preises gelegen.
 
Hinzu komme, dass sich der Kalkulationsfehler auf Lohnstunden beziehe und deshalb eine alternative Kompensation, wie sie bei Materialpreisen durch den Einsatz anderer Baustoffe im Einzelfall herbeigeführt werden könne, für die Beklagte nicht möglich sei.

Praktische Auswirkungen:
Ist für den Auftraggeber erkennbar, dass sich ein Bieter erheblich verkalkuliert haben muss und ist die Durchführung des Auftrags für den Bieter unzumutbar, stellt das Festhalten an der Durchführung des Vertrages eine unzulässige Rechtsausübung gemäß § 241 Abs. 2 BGB dar.

(Quelle: VOBaktuell Heft III/2020
Ass. jur. Anja Mundt)