Geltendmachung eines Vergabeverstoßes im Schadensersatzprozess ohne vorherige Geltendmachung dieses Verstoßes im Nachprüfungsverfahren zulässig

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Geltendmachung eines Vergabeverstoßes im Schadensersatzprozess ohne vorherige Geltendmachung dieses Verstoßes im Nachprüfungsverfahren zulässig
Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) – X ZR 124/18 vom 17. September 2019

Der Teilnehmer an einem Vergabeverfahren nach dem Vierten Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist mit einem auf einen Vergaberechtsverstoß gestützten 
Schadensersatzanspruch nicht ausgeschlossen, wenn er den Verstoß nicht zum Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer gemacht hat. 

Hat der Schadensersatz verlangende Bieter einen Vergaberechtsverstoß gerügt, kann ihm kein Mitverschulden nach § 254 BGB angelastet werden, wenn er die Rüge auf Bitten des Auftraggebers  zurückgenommen hat, um das Vergabeverfahren nicht weiter zu verzögern.

(Amtliche Leitsätze)

Gegenstand der Entscheidung des BGH war u. a. die Frage, ob ein Schadensersatzanspruch wegen eines Vergabeverstoßes voraussetzt, dass dieser Verstoß zuvor im Nachprüfungsverfahren geltend gemacht wurde. Zudem ging es um die Frage eines Mitverschuldens bei der Entstehung des Schadens aufgrund einer zurückgenommenen Ruge.

Sachverhalt:
Die Klägerin, ein Bauunternehmen, beansprucht Schadensersatz von der beklagten Auftraggeberin nach dem Ausschluss ihres Angebots in einem Vergabeverfahren betreffend die Erstellung von Lärmschutzwänden entlang einer Eisenbahnstrecke und Vergabe des Auftrags an einen Konkurrenten. 

Nach den Ausschreibungsunterlagen war Folgendes ausgeschrieben: „Wandelemente aus Leichtmetall entsprechend akustischen, statischen und konstruktiven Erfordernissen nach Richtlinie 804.5501 und Zeichnung zwischen den Pfosten einbauen, einschl. Dämmung der Fugen“. Als Bauprodukte für Lärmschutzwände durften grundsätzlich nur solche eingesetzt werden, deren Verwendung und Einsatzbedingungen in dieser Richtlinie geregelt waren und die über einen Verwendbarkeitsnachweis i. S. d. (eisenbahnspezifischen) Bauregellisten verfügten. Alleiniges Zuschlagskriterium war der Preis. Die Beklagte schloss das – günstigste – Angebot der Klägerin aus, da der Verwendbarkeitsnachweis für die angebotenen Wandelemente im Zeitpunkt der Angebotsabgabe nicht vorlag. Die Klägerin rügte den Ausschluss als vergaberechtswidrig, weil die angebotenen Wandelemente den in der Richtlinie vorgesehenen statischen und konstruktiven Anforderungen genügten und reichte einen Tag später den zwischenzeitlich erteilten Verwendbarkeitsnachweis nach, nahm jedoch nach einem Gespräch zwischen Vertretern der Parteien die Ruge zurück. Die Beklagte erteilte den Zuschlag auf ein anderes Angebot.

Die Klägerin verlangte von der Beklagten Schadensersatz und beantragte den Erlass eines Mahnbescheids. Das Landgericht wies die auf Ersatz des positiven Interesses gerichtete Klage ab. Das Berufungsgericht verurteilte die Beklagte antragsgemäß zum Schadensersatz. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter. Die Klägerin trat dem Rechtsmittel entgegen. 

In der Sache bleibt die Revision der Beklagten vor dem BGH erfolglos.

Aus den Gründen:
Der Klägerin stehe der geltend gemachte Schadensersatzanspruch zu, weil die Beklagte das Angebot der Klägerin vergaberechtswidrig ausgeschlossen habe.

Es stehe der Verpflichtung der Beklagten zum Schadensersatz nicht entgegen, dass die Klägerin den Ausschluss ihres Angebots nicht zum Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer gemacht habe. Denn ein Bieter, der einen erkannten oder aus der Bekanntmachung oder aus den Vergabeunterlagen erkennbaren Vergaberechtsverstoß nicht innerhalb der in § 160 Abs. 3 GWB genannten Fristen rüge, sei mit der Geltendmachung dieses Verstoßes im Schadensersatzprozess nicht ebenso ausgeschlossen wie mit der Einreichung eines Nachprüfungsantrags.

Der BGH stellt insofern klar, dass eine Bindungswirkung lediglich mit Blick auf eine Entscheidung im Nachprüfungsverfahren für einen nachfolgenden Schadensersatzprozess bestehe, um einander widersprechende Beurteilungen der Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens im Nachprüfungsverfahren und im Schadensersatzprozess zu vermeiden. Für einen Ausschluss von Schadenersatzansprüchen in Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens nicht Gegenstand eines vom Anspruchsteller eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens gewesen sei, biete dies keine Grundlage.

Der Klägerin könne auch kein Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens (§ 254 BGB) angelastet werden.

Es bedürfe keiner abschließenden Klärung, ob und unter welchen Voraussetzungen es ein Mitverschulden eines Bieters begründen könne, dass er eine Ruge nicht erhoben oder von ihr Abstand genommen oder einen Nachprüfungsantrag nicht angebracht oder wieder zurückgenommen habe.

Vorliegend sei die Ruge aufgrund des Gesprächs der Vertreter der Parteien zurückgenommen worden und auf Bitten der Beklagten erfolgt, die damit die fristgerechte Durchführung der ausgeschriebenen Baumaßnahme habe sicherstellen wollen. Das Berufungsgericht habe hieraus zutreffend gefolgert, dass der Klägerin unter diesen Umstanden kein Mitverschulden zur Last gelegt werden könne.

Durch die Zustellung des Mahnbescheids sei auch der Lauf der Verjährungsfrist gehemmt worden. Allerdings hemme die Zustellung eines Mahnbescheids die Verjährung des geltend gemachten Anspruchs gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB nur dann, wenn dieser im Antrag auf Erlass des Mahnbescheids in einer den Anforderungen des § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO entsprechenden Weise hinreichend individualisiert worden sei. Dazu müsse der Anspruch durch seine Kennzeichnung von anderen Ansprüchen so unterschieden und abgegrenzt sein, dass er Grundlage eines der materiellen Rechtskraft fähigen Vollstreckungstitels sein könne und dem Schuldner die Beurteilung ermögliche, ob er sich gegen den Anspruch zur Wehr setzen wolle. Art und Umfang der erforderlichen Angaben hingen im Einzelfall von dem zwischen den Parteien bestehenden Rechtsverhältnis und der Art des Anspruchs ab.

Voraussetzung für die verjährungshemmende Wirkung sei, dass aus dem Mahnbescheid für den Antragsgegner ersichtlich sei, welche konkreten Anspruche mit dem Mahnbescheid geltend gemacht würden.

Gemessen an diesen Maßstäben erfülle die im Mahnbescheid erfolgte Bezeichnung des geltend gemachten Anspruchs unter den gegebenen Umstanden noch die mit § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO gestellten Anforderungen. Aufgrund der Angabe, dass es sich um einen „Schadensersatzanspruch vom (…)“ handle, sei für die Beklagte im Zeitpunkt der Zustellung des Mahnbescheids erkennbar gewesen, welcher Lebenssachverhalt der Forderung der Klägerin zugrunde gelegen habe.

Entscheidend sei hierbei, dass die Beklagte aufgrund der kurz vor Zustellung des Mahnbescheids zugegangenen Schreiben der Klägerin gewusst habe, dass diese wegen des Ausschlusses ihres Angebots vom Vergabeverfahren beabsichtige, Schadensersatzanspruche gerichtlich geltend zu machen. Weil die darin und im Mahnbescheid angegebenen Betrage übereinstimmten, habe die Beklagte bei verständiger Würdigung nicht daran zweifeln können, dass die im Mahnbescheid
bezeichnete Schadensersatzforderung den mit der Klage geltend gemachten Schaden betroffen habe.

Praktische Auswirkungen:
Der BGH verneint die Frage, ob ein Schadensersatzanspruch wegen eines Vergabeverstoßes voraussetzt, dass dieser Verstoß zuvor im Nachprüfungsverfahren geltend gemacht wurde. Ein Bieter kann also einen Vergaberechtsverstoß in einem Schadensersatzprozess auch dann geltend machen, wenn er diesen nicht zuvor innerhalb der Frist des § 160 Abs. 3 GWB gerügt hat. Wurde allerdings im Nachprüfungsverfahren über einen Vergabeverstoß entschieden, besteht eine Bindungswirkung mit Blick auf diese Entscheidung für einen nachfolgenden Schadensersatzprozess, um einander  widersprechende Beurteilungen der Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens im Nachprüfungsverfahren und im Schadensersatzprozess zu vermeiden.

Zudem lehnt der BGH ein Mitverschulden des Bieters an der Entstehung des Schadens i. S. d. § 254 BGB, weil dieser eine Ruge auf Bitten der Auftraggeberin in deren Interesse zurückgenommen hatte, ab.
 

(Quelle: VOBaktuell Heft 1/2020
Ass. jur. Anja Mundt)