Berechnung der Höhe des Entschädigungsanspruchs aus § 642 BGB

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Berechnung der Höhe des Entschädigungsanspruchs aus § 642 BGB
Urteil des Bundesgerichtshofs – VII ZR 33/19 – vom 30. Januar 2020

Leitsatz:
§ 642 BGB erfordert eine Abwägungsentscheidung des Tatrichters auf der Grundlage der in § 642 Abs. 2 BGB genannten Kriterien. Dabei ist die angemessene Entschädigung im Ausgangspunkt an den auf die unproduktiv bereitgehaltenen Produktionsmittel entfallenden Vergütungsanteilen einschließlich der Anteile für allgemeine Geschäftskosten sowie für Wagnis und Gewinn zu orientieren.

Der Bundesgerichtshof stellt in seinem aktuellen Urteil klar, dass § 642 BGB gerade keinen vollständigen Ausgleich für die während des Annahmeverzugs nicht erwirtschaftete Vergütung gewährt. Er macht aber deutlich, dass die Entschädigungshöhe ausgehend von den tatsächlich unproduktiv vorgehaltenen Produktionsmitteln berechnet wird.

Sachverhalt:
Der öffentliche Auftraggeber schrieb für das Bauvorhaben „Erweiterungsbauten für die Gemeinschaftsschule“ Trockenbauarbeiten aus. Die Trockenbauarbeiten waren in drei unterschiedlichen Gebäuden zu erbringen. Bei der Ausschreibung nahm die ausschreibende Stelle auf die Allgemeinen Vertragsbedingungen für die Ausführung von Bauleistungen (VOB/B) und auf die Besonderen Vertragsbedingungen (BVB) Bezug. Gemäß Ziffer 1.1 BVB war mit der Ausführung der Trockenbauarbeiten am 20. Juni 2016 zu beginnen und die Leistung am 7. April 2017 zu vollenden. In Ziffer 10 BVB wurden ferner „Einzelfristen“ für die Erbringung bestimmter Trockenbauarbeiten festgelegt. So waren dort folgende Fristen genannt:

„1. Schulerweiterung
a. Wände 1. Seite 21.11.2016 bis 13.01.2017
b. Wände schließen 19.12.2016 bis 17.02.2017
c. Decken 30.01.2017 bis 07.04.2017

2. Elternzentrum
a. Wände 1. Seite 04.07.2016 bis 29.07.2016
b. Wände schließen 22.08.2016 bis 16.09.2016
c. Decken 05.09.2016 bis 30.09.2016

3. WAT-Gebäude
a. Wände 1. Seite 20.06.2016 bis 01.07.2016
b. Wände schließen 15.08.2016 bis 02.09.2016
c. Decken 29.08.2016 bis 16.09.2016“.

Auf Bitten des öffentlichen Auftraggebers verlängerte die Auftragnehmerin nach Abgabe ihres Angebotes die zunächst bis zum 20. Juni 2016 laufende Bindefrist für ihr Angebot zweimal, zuletzt bis zum 5. August 2016. Im Beauftragungsschreiben vom 2. August 2016 hatte die ausschreibende Stelle folgenden Textbaustein angekreuzt: „Ich fordere Sie auf, mit der Ausführung der Bauleistung gemäß Ziff. 1.1 der Besonderen Vertragsbedingungen zu beginnen.“ Im Folgenden begann die Klägerin fristgerecht mit den Trockenbauarbeiten nach den neu bestimmten Terminen des Bauleiters des Auftraggebers. Sie konnte die Trockenbauarbeiten jedoch erst im Februar bzw. März 2017 abschließen. Hinsichtlich des Gebäudes „Schulerweiterung“ konnte die Auftragnehmerin mit den Trockenbauarbeiten erst am 2. Mai 2017 beginnen. Diese Arbeiten dauerten im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht noch an.

Die klagende Auftragnehmerin begehrt von dem Auftraggeber einen Entschädigungsanspruch gemäß § 642 BGB. Sie ist der Auffassung, der Auftraggeber habe sich hinsichtlich aller drei Gebäude infolge Unterlassens einer bei Herstellung des Werks erforderlichen Mitwirkungshandlung in Annahmeverzug befunden, weil er das Baugrundstück nicht so überlassen habe, dass sie die Trockenbauarbeiten innerhalb der Vertragsfristen habe ausführen können. Der vereinbarte Ausführungsbeginn habe sich aufgrund der Verzögerung des Vergabeverfahrens derart verschoben, dass die ursprünglich vereinbarten Termine für den Ausführungsbeginn verstrichen waren. Die Auftragnehmerin bemisst die Entschädigung in der Weise, dass sie die Vergütung für die drei Gebäude, soweit sie diese während der Dauer des Annahmeverzugs des Auftraggebers nicht erwirtschaften konnte, anteilig zugrunde legt und hiervon ersparte Material- und Gerätekosten sowie einen anderweitigen Erwerb abzieht.

Aus den Gründen:
Der Bundesgerichtshof hält die Revision der Auftragnehmerin im Hinblick auf einen Entschädigungsanspruch für das Gebäude „Schulerweiterung“ für begründet, jedoch im Übrigen für unbegründet. 

1. Elternzentrum und WAT-Gebäude

Der Bundesgerichtshof verneint einen Entschädigungsanspruch der Auftragnehmerin gemäß § 642 BGB, weil der Auftraggeber hinsichtlich des „WAT-Gebäudes“ und des „Elternzentrums“ nicht mit der bei der Herstellung des Werks erforderlichen Mitwirkung in Annahmeverzug geraten ist. Er führt dazu aus, dass der Auftraggeber das Angebot der Auftragnehmerin nach mehrfacher einvernehmlicher Bindefristverlängerung mit seinem Auftragsschreiben vom 2. August 2016 unverändert angenommen hat. Dies gelte unabhängig davon, dass die in dem Angebot für den Beginn der Ausführung jeweils vorgesehenen Termine zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen waren. Ein solcher Vertragsschluss, der eine Einigung über bereits verstrichene Fristen enthält, erfordere nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Vertragsanpassung. Da die vereinbarten Vertragsfristen aus tatsächlichen Gründen gegenstandslos sind, könne es bei ihnen nicht verbleiben. Angesichts des Umstands, dass die Parteien im Vertrag Regelungen zur zeitlichen Durchführung vereinbart haben, entspreche ein ersatzloser Wegfall nicht dem Willen der Parteien. Das Verhalten der Parteien sei deshalb dahin auszulegen, dass sie den Vertrag zwar bereits bindend schließen, über neue, dem eingetretenen Zeitablauf Rechnung tragende Fristen jedoch noch eine Einigung herbeiführen wollen. Komme es nicht zu der von den Parteien erwarteten nachträglichen Einigung, existiere eine Regelungslücke, die im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu füllen ist. Danach sei die Bauzeit unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls anzupassen, wobei im Rahmen eines VOB/B-Vertrags die Grundsätze des vereinbarten § 6 Abs. 3 und 4 VOB/B sinngemäß zu berücksichtigen sind. Zugleich sei der vertragliche Vergütungsanspruch in Anlehnung an die Grundsätze des § 2 Abs. 5 VOB/B anzupassen.

Der Bundesgerichtshof betont in diesem Zusammenhang, dass im Hinblick auf die erforderliche Vertragsanpassung bei Verzögerungen des Vergabeverfahrens der Auftraggeber daher nicht bereits deswegen in Annahmeverzug gerät, weil zum Zeitpunkt der Zuschlagserteilung die Ausführungsfristen bereits verstrichen sind.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts sowie des Bundesgerichtshofs haben sich die Parteien vorliegend auf neue Vertragsfristen geeinigt. Die Gerichte haben die jeweilige Mitteilung der neuen Termine für den Ausführungsbeginn durch den insoweit bevollmächtigten Bauleiter des Auftraggebers als Angebot auf die erforderliche Anpassung der Bauzeit ausgelegt und die widerspruchslose Aufnahme der Trockenbauarbeiten zu den genannten Terminen als konkludente Annahme ausgelegt.

2. „Schulerweiterung“

Soweit das Berufungsgericht hinsichtlich des Gebäudes „Schulerweiterung“ ebenfalls einen Entschädigungsanspruch gemäß § 642 BGB verneint hat, hat die Revision Erfolg. Der zeitbezogene Umsatzverlust sei indes nicht der für den Anspruch gemäß § 642 BGB vorausgesetzte Nachteil. Der Bundesgerichtshof erteilte der Berechnung der Auftragnehmerin, die von der auf die „Schulerweiterung“ fallenden Vergütung in Höhe von ca. 228.000 € netto ausgeht, die sie in dem vertraglich vorgesehenen Zeitraum vom 21. November 2016 bis zum 7. April 2017 nicht habe erwirtschaften können, abzüglich in diesem Zeitraum ersparter Aufwendungen für Material und Geräte in Höhe von ca. 86.000 € sowie eines anderweitigen Erwerbs in Höhe von ca. 8.000 € eine Absage. Eine solche Berechnung könne den Anspruch gemäß § 642 BGB nicht begründen.

Die Frage, welchen Inhalt der Entschädigungsanspruch gemäß § 642 BGB hat, insbesondere wie er zu bemessen ist, ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofs bislang nicht geklärt.

Diesbezüglich führt der Bundesgerichtshof aus, dass der Begriff „angemessene Entschädigung“ in § 642 Abs. 1 BGB deutlich macht, dass es sich bei dem Anspruch aus § 642 BGB nicht um einen umfassenden Schadensersatzanspruch handelt, sondern um einen verschuldensunabhängigen Anspruch sui generis, auf den die Vorschriften der §§ 249 ff. BGB zur Berechnung von Schadensersatz nicht anwendbar sind. Er hat ferner entschieden, dass Mehrkosten wie gestiegene Lohn- und Materialkosten, die zwar aufgrund des Annahmeverzugs des Bestellers, aber erst nach dessen Beendigung anfallen, nämlich bei Ausführung der verschobenen Werkleistung, vom Entschädigungsanspruch nach § 642 BGB nicht erfasst sind (vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 2017 – VII ZR 16/17, VOB Aktuell III/2018). In diesem Zusammenhang hat er zum einen darauf abgestellt, dass zeitliches Kriterium für die Bemessung der Entschädigungshöhe nach dem Wortlaut des § 642 Abs. 2 BGB nur die Dauer des Annahmeverzugs ist und dieser Umstand ein gewichtiges Indiz dafür bildet, dass eine Entschädigung nach § 642 BGB auch nur für diesen Zeitraum beansprucht werden kann. Zum anderen hat er darauf hingewiesen, dass bei der Bemessung der Entschädigung gemäß § 642 Abs. 2 BGB die „Höhe der vereinbarten Vergütung“ zu berücksichtigen ist, die auch den in dieser Vergütung enthaltenen Anteil für Gewinn, Wagnis und allgemeine Geschäftskosten einschließen kann. Zudem geht der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass § 642 BGB nach seinem Sinn und Zweck dem Unternehmer eine angemessene Entschädigung dafür gewährt, dass er während des Annahmeverzugs des Bestellers infolge Unterlassens einer diesem obliegenden Mitwirkungshandlung Personal, Geräte und Kapital, also die Produktionsmittel zur Herstellung der Werkleistung, bereithält.

Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof in vorangegangenen Urteilen jedoch bislang nicht Stellung dazu genommen, wie der Entschädigungsanspruch gemäß § 642 BGB zu bemessen ist, insbesondere inwieweit Anteile für Gewinn, Wagnis und allgemeine Geschäftskosten in die Entschädigung einfließen können. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist die angemessene Entschädigung nach § 642 BGB im Ausgangspunkt an den auf die unproduktiv bereitgehaltenen Produktionsmittel entfallenden Vergütungsanteilen einschließlich der Anteile für allgemeine Geschäftskosten sowie für Wagnis und Gewinn zu orientieren. Dagegen gewähre § 642 BGB keinen vollständigen Ausgleich für die während des Annahmeverzugs nicht erwirtschaftete Vergütung. Der Bundesgerichtshof führt diesbezüglich weitergehend aus, dass die Vorschrift des § 642 BGB keine exakte Berechnung des Entschädigungsanspruchs vorgibt, sondern davon ausgeht, dass der Tatrichter im Rahmen der erforderlichen Abwägung einen Ermessensspielraum hat. Er könne dabei auf die Möglichkeit der Schätzung gemäß § 287 ZPO zurückgreifen.

Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergebe sich, dass nach dem Sinn und Zweck des § 642 BGB der Unternehmer dafür entschädigt werden soll, dass er während des Annahmeverzugs
des Auftraggebers infolge Unterlassens einer diesem obliegenden Mitwirkungshandlung Personal, Geräte und Kapital, also die Produktionsmittel zur Herstellung der Werkleistung,
bereithält. Aus den Gesetzesmaterialien könne geschlossen werden, dass der Gesetzgeber neben dem Vergütungsanspruch, der bei Herstellung des Werks nach Beendigung des Annahmeverzugs verdient wird, zusätzlich eine Entschädigung für den Zeitraum, in dem nicht geleistet werden konnte, schaffen wollte, ohne jedoch jegliche Nachteile ausgleichen zu wollen, die dadurch entstehen, dass der Unternehmer seine Leistung während des Annahmeverzugs nicht gewinnbringend ausführen kann.

Der Bundesgerichtshof ist im Ergebnis der Auffassung, dass der Tatrichter festzustellen hat, inwieweit der Unternehmer während des Annahmeverzugs Produktionsmittel unproduktiv bereitgehalten hat und welcher Anteil aus der vereinbarten Gesamtvergütung hierauf entfällt. Hierbei ist er nach § 287 ZPO zur Schätzung berechtigt. Im Hinblick auf das Kriterium des anderweitigen Erwerbs hat der Tatrichter weiterhin zu prüfen, ob der Unternehmer seine Produktionsmittel während des Annahmeverzugs anderweitig produktiv eingesetzt hat oder einsetzen konnte. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob die anderweitige Einsatzmöglichkeit auf einem sogenannten „echten Füllauftrag“ beruht, also auf einem Auftrag, der nur wegen des Annahmeverzugs angenommen und ausgeführt werden kann.

Anmerkung:
§ 642 BGB gewährt keinen vollständigen Ausgleich für die während des Annahmeverzugs nicht erwirtschaftete Vergütung. Vielmehr wird die Entschädigungshöhe ausgehend von den tatsächlich unproduktiv vorgehaltenen Produktionsmitteln berechnet. Hierfür hat der Unternehmer darzulegen und zu beweisen, welche Produktionsmittel im Einzelnen unproduktiv bereitgehalten wurden. Dies kann sowohl für gemietete Maschinen als auch für Mitarbeiter, die kurzfristig nicht auf anderen Baustellen zum Einsatz kommen können, gelten. Um diesen Nachweis erbringen zu können, sollte umfassend dokumentiert werden, wann welche Mitarbeiter auf welchen Baustellen zum Einsatz kamen. In einem gerichtlichen Prozess ist es Sache des Unternehmers, all diese Umstände und Tatsachen vorzutragen. Die tatsächliche Berechnung der zu erstattenden Entschädigung kann dann letztlich durch den Tatrichter geschätzt werden.


(Quelle: VOBaktuell Heft I/2021
RA Dr. Philipp Mesenburg und RÄ Dunja Salmen)