Abwägung des Auftraggebers bei der Losaufteilung
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Abwägung des Auftraggebers bei der Losaufteilung
Beschluss des OLG Rostock, 17 Verg 1/24 vom 18. Juli 2024
Das Absehen von der Losaufteilung kommt nur dann in Betracht, wenn sich der Auftraggeber im Einzelnen mit dem grundsätzlichen Gebot der Fachlosvergabe einerseits und den im konkreten Fall dagegensprechenden Gründen auseinandersetzt und sodann eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange trifft, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden technischen oder wirtschaftlichen Gründe überwiegen müssen. Objektiv zwingender Gründe für die zusammenfassende Vergabe bedarf es demgegenüber nicht.
Bei der Prognose der Vor- und Nachteile der Losvergabe, deren Gewichtung und der Abwägung steht dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu.
Bei der Abwägung der für und gegen die Losaufteilung sprechenden Gründe sind die typischen Vor- und Nachteile mit der vom Gesetzgeber vorgegebenen Gewichtung zu berücksichtigen und um die im Einzelfall bestehenden Besonderheiten zu ergänzen.
In dem Verfahren hatte sich das OLG mit dem „Dauerbrenner“ Losaufteilung und hier insbesondere mit der Abwägung des Auftraggebers bezüglich der für und gegen die Losaufteilung sprechenden Gründe zu befassen.
Sachverhalt
Ausgeschrieben war die Errichtung einer Zügelgurtbrücke in Stahlverbundbauweise mit einer Gesamtlänge von 1.465 m mit den zugehörigen Teilbauwerken Lärmschutzwand, Kollisions- und Irritationsschutzwand sowie Uferwand. Die Brücke setzt sich aus zwei Vorlandbrücken mit 347 m bzw. 616 m und der Strombrücke mit 502 m Länge zusammen. Der Auftraggeber hatte eine fachlosweise Vergabe der einzelnen Bauwerke geprüft, sich aber ausweislich des Vergabevermerks für eine Gesamtvergabe entschieden und die Gründe dokumentiert. Die Antragstellerin ist ein mittelständisches, auf die Errichtung von Schutzwänden spezialisiertes Bauunternehmen, die sich für die Errichtung von zwei Teilbauwerken bewerben möchte. Nach erfolgloser Rüge beanstandete sie im Nachprüfungsverfahren, dass für die Schutzwandarbeiten kein gesondertes Fachlos gebildet wurde.
Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag abgewiesen.
Dagegen wendete sich die Antragstellerin mit ihrer sofortigen Beschwerde. Sie ist der Ansicht, die Gesamtvergabe sei weder aus wirtschaftlichen noch aus technischen Gründen erforderlich. Hierbei habe auch keine Abwägung zu erfolgen, sondern der Auftrag müsse in Lose aufgeteilt werden, wenn keine objektiv zwingenden Gründe für eine Gesamtvergabe sprechen. Die vom Auftraggeber für die Gesamtvergabe herangezogenen Gründe seien typische Schnittstellensachverhalte und deshalb zur Begründung ungeeignet. Im Übrigen habe der Auftraggeber nur gegen und keine für die Losvergabe sprechenden Gründe ermittelt und insoweit keine umfassende Abwägung vorgenommen.
Das OLG versetzte daraufhin das Vergabeverfahren in den Stand vor Ausschreibung zurück und gab dem Auftraggeber auf, erneut zu prüfen, ob die betroffenen Teilbauwerke zusammen in einem gesonderten Fachlos auszuschreiben sind. Es hält den Nachprüfungsantrag im Ergebnis für begründet.
Aus den Gründen
Nach § 97 Abs. 4 Satz 1 bis 3 GWB bzw. wortgleich nach § 5 EU Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 bis 3 VOB/A seien Leistungen in Losen zu vergeben. Hiervon könne nur abgesehen werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erforderten.
Dieses klare Regel-/Ausnahmeverhältnis bedeute allerdings nicht, dass eine Gesamtvergabe nur bei Vorliegen eines objektiv zwingenden Grundes erfolgen dürfe. § 97 Abs. 4 GWB sei im Kontext der primären Ziele des Vergaberechts auszulegen, zu denen insbesondere die Wirtschaftlichkeit der Beschaffung gehöre. Dabei seien auch die weiteren Grundsätze des Vergaberechts (Wettbewerb, Transparenz, Gleichbehandlung und Verhältnismäßigkeit) sowie die vom Gesetzgeber in § 97 Abs. 3 GWB normierten strategischen Ziele (Qualität, Innovation, soziale und umweltbezogene Aspekte) im Blick zu behalten. Allerdings ergebe sich aus der klaren Wertung des Gesetzgebers, dass anerkennenswerte Gründe dieser Art für die Gesamtvergabe nicht genügten. Auch rechtfertige die Entlastung des Auftraggebers von typischerweise mit einer losweisen Vergabe verbundenen Koordinierungsaufgaben oder sonstigem organisatorischen Mehraufwand für sich allein kein Absehen von einer Losvergabe. Wolle der Auftraggeber vom Losgrundsatz abweichen, müsse er sich im Einzelnen mit dem grundsätzlichen Gebot der Fachlosvergabe einerseits und den im konkreten Fall dagegensprechenden Gründen auseinandersetzen und sodann eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange mit dem Ergebnis treffen, dass die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden technischen und wirtschaftlichen Gründe überwiegen. Objektiv zwingende Gründe für die zusammenfassende Vergabe bedürfe es demgegenüber nicht.
Sei die Entscheidung somit Ergebnis einer Abwägung, müsse der Auftraggeber im Hinblick auf die Zielerreichung keine Wagnisse und Risiken eingehen und dürfe einen sicheren Weg wählen. Jedenfalls bei konkreten und erheblichen Risiken der Fachlosvergabe sei der Auftraggeber nicht gezwungen, sehenden Auges diesen Weg zu beschreiten. Andererseits dürfe die Gesamtvergabe auch nicht mit jeglichen, ggf. fernliegenden Risiken begründet werden („sicherster Weg“). Das Gewicht des einzelnen Risikos sei nach Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß nach den dargestellten Grundsätzen im Einzelfall zu bestimmen.
Bei der Prognose möglicher Vor- und Nachteile der Losvergabe, deren Gewichtung und der Abwägung stehe dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu. Die Entscheidung des Auftraggebers über die Gesamtvergabe sei daher von den Vergabenachprüfungsinstanzen nur darauf zu überprüfen, ob sie auf vollständiger und zutreffender Sachverhaltsermittlung und nicht auf einer Fehlbeurteilung, namentlich auf Willkür, beruhe. Ihnen sei es verwehrt, die Entscheidung des Auftraggebers durch eine eigene Beurteilung zu ersetzen, solange nicht nur eine einzige Entscheidungsmöglichkeit bleibe. Soweit das Kammergericht (Beschluss vom 26.03.2019 – Verg 16/16) in einem obiter dictum die Auffassung vertreten habe, anders als bei Teillosen bestehe bei Fachlosen kein Beurteilungsspielraum und sei die Entscheidung des Auftraggebers uneingeschränkt nachprüfbar, folgt der Senat dem nicht, weil er keine Gründe für die Unterscheidung zwischen Teil- und Fachlosen erkennen kann.
Technische und wirtschaftliche Gründe i. S. d. § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB seien solche, die eine Integration aller Leistungsschritte in einer Hand zur Erreichung des vom Auftraggeber angestrebten Qualitätsniveaus notwendig machten. Technische Gründe seien alle Aspekte, die zu einem vom Auftraggeber vorgegebenen Leistungsprofil in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen, z. B. auch bei komplexen, miteinander verflochtenen Dienstleistungen oder wenn die Aufteilung in Fachlose unverhältnismäßige Kostennachteile mit sich brächte oder das Vorhaben stark verzögern würde. Wirtschaftliche Gründe könnten auch darin liegen, dass es sich um ein eilbedürftiges Vorhaben wie die Fertigstellung eines Bauabschnitts einer vielbefahrenen Autobahn handle. Weil es sich um auftragsbezogene Besonderheiten handle, könne die mit einer Gesamtvergabe verbundene Straffung und Beschleunigung der Abläufe das Vorliegen der Voraussetzungen des § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB begründen.
Nach diesen Grundsätzen habe der Auftraggeber von der gesonderten Losvergabe der betroffenen Teilbauwerke nicht mit der gegebenen Begründung absehen dürfen. Im Rahmen der Abwägung könnten die typischen Vor- und Nachteile einer losweisen Aufteilung eines Auftrags – insbesondere der typische Ausschreibungs-, Prüfungs- und Koordinierungsaufwand sowie ein höherer Aufwand bei Gewährleistungen – lediglich mit der vom Gesetzgeber vorgezeichneten Gewichtung Berücksichtigung finden und insoweit für sich genommen die zusammenfassende Vergabe nicht begründen. Daher komme es darauf an, in welchem Umfang vorhabenspezifische Vor- und Nachteile hinzutreten, deren Gewichtung im Einzelfall vorzunehmen sei.
Vorliegend, so das OLG, genügten die Erläuterungen nicht für eine beanstandungsfreie Entscheidung über die Fachlosaufteilung. Der Auftraggeber habe seiner Abwägung nicht den zutreffenden und vollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt. Zudem genüge die Dokumentation nicht, eine willkürfreie, an Sachgründen orientierte Abwägung festzustellen.
Praktische Auswirkungen
Eine Abweichung vom Losgrundsatz erfordert vom Auftraggeber, dass er sich im Einzelnen mit dem grundsätzlichen Gebot der Fachlosvergabe einerseits und den im konkreten Fall dagegensprechenden Gründen andererseits auseinandersetzt und auf dieser Basis die widerstreitenden Belange umfassend abwägt mit dem Ergebnis, dass die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden wirtschaftlichen oder technischen Gründe überwiegen. Allerdings muss es sich dabei nicht um objektiv zwingende Gründe für die zusammenfassende Vergabe handeln. Bei der Prognose möglicher Vor- und Nachteile der Losvergabe, deren Gewichtung und der Abwägung steht dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu, der von den Vergabenachprüfungsinstanzen nur eingeschränkt überprüfbar ist. Wichtig ist in jedem Fall eine sorgfältige Dokumentation.
(Quelle: VOBaktuell Heft II/2025
Ass. jur. Anja Mundt)